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AUFGESCHLAGEN Zugeschlagen: Schweinchen-Schlau-Lektüre

Denis Scheck, Literaturredakteur beim Deutschlandfunk, bespricht einmal monatlich die „Spiegel“-Bestsellerliste, abwechselnd Belletristik und Sachbuch – parallel zu seiner ARD-Sendung „Druckfrisch“. (Sommerpause bis 1.

Denis Scheck, Literaturredakteur beim Deutschlandfunk, bespricht einmal monatlich die „Spiegel“-Bestsellerliste, abwechselnd Belletristik und Sachbuch – parallel zu seiner ARD-Sendung „Druckfrisch“. (Sommerpause bis 1. September)



10) Richard David Precht: Anna, die Schule und der liebe Gott (Goldmann, 351 Seiten, 19, 99 €.)

Das letzte ideologische Schlachtfeld unserer Zeit ist das Klassenzimmer. „Gute Lehrer sind Artisten im Sozialen, sie sind Darstellungs- und Vermittlungskünstler“, schreibt Richard David Precht. So weit, so unstrittig. Dann aber fordert Precht ein radikal anderes Schulsystem als Voraussetzung zu einer radikal anderen Gesellschaft: eine Gesamtschule ohne Noten, Fächer, Klassen. Wahrscheinlich ist das, wie im Titel angedeutet, eine Glaubensfrage. Mir aber fehlt der Glaube.

9) Alexander Eben: Blick in die Ewigkeit (Deutsch von Juliane Molitor, Ansata, 256 Seiten, 19, 99 €.)

Der widerwärtige Fall eines Arztes, der seinen akademischen Titel dazu missbraucht, als US-amerikanischer Evangelimann seine Halluzinationen während eines Komas als religiöse Offenbarung zu vermarkten.

8) Markus Gabriel: Warum es die Welt nicht gibt (Ullstein, 271 Seiten 18 €.)

„Woher kommen wir? Worin befinden wir uns? Und was soll das Ganze eigentlich?“ Richard David Precht hat das Genre des Philosophie-Entertainers geschaffen, in das sich der junge Bonner Philosophieprofessor Markus Gabriel mit seinem anregungsreichen Buch über den „Neuen Realismus“ prächtig einfügt. Am Ende dieser Schweinchen-Schlau-Lektüre weiß man nicht nur mehr über Existenz und Materialismus, Postmoderne, Metaphysik und Konstruktivismus – sondern auch darüber, wie man ein populäres Sachbuch heute schreiben muss.

7) Dieter Nuhr: Das Geheimnis des perfekten Tages (Lübbe, 308 Seiten, 14, 99 €.)

„Die größte Ungerechtigkeit auf dieser Welt ist die Schönheit“, weiß Dieter Nuhr: „Schöne Menschen haben mehr Erfolg, verdienen mehr, werden bewundert und auf Händen getragen. Das ist ungerecht! Das ist gemein! Das ist Natur!“ Insofern ist es fast schon tröstlich, dass man auch mit etwas recht Hässlichem wie dieser vollkommen inkohärenten Ansammlung beliebiger und meist fader Notate einen schönen Erfolg landen kann.

6) Dirk Müller: Showdown (Droemer, 272 Seiten, 19, 99 €.)

Dirk Müller erklärt die Wirtschaft, und weil er gerade dabei ist, erklärt er auch gleich noch die Welt und die Windkraft: „Wir müssen also nicht nur Windparks an Land und auf dem Meer bauen, wir brauchen auch in unmittelbarer Nähe dieser Windparks Anlagen, um die entstehende Energie vor Ort in Wasserstoff umzuwandeln.“ Wir müssen gar nichts. Wir brauchen weniger, als wir glauben. Aber wir sollten vielleicht einmal darüber nachdenken, die seit der Bankenkrise unerträglich hysterische Tonlage in Büchern über Wirtschaft ein wenig zu dämpfen.

5) Bronnie Ware: 5 Dinge, die Sterbende am meisten bereuen (Deutsch von Wibke Kuhn, Arkana, 352 Seiten, 19, 99 €.)

Eine der fünf Binsenweisheiten, die Bronnie Ware, eine australische Krankenschwester, angeblich Todkranken abgelauscht hat, lautet: „Ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, meinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen.“ Das nehme ich gern als Ermunterung, aus meinem Herzen nicht länger eine Mördergrube zu machen und einmal ganz offen auszusprechen, wie lange ich mir schon wünsche, dass Autorinnen mit dem Bildungshorizont und Reflektionsniveau einer Bronnie Ware ihre dümmlichen Sachbuchschwarten mit einem Stöckchen aufs Wasser schreiben.

4) Rolf Dobelli: Die Kunst des klaren Denkens (Hanser, 256 Seiten, 14, 90 €.)

In seiner lesenswerten kleinen Fibel über Sackgassen unseres Denkens erklärt Dobelli sukzinkt das „Framing“, den „Omission Bias“ oder die „Kontrolllillusion“ und macht ganz nebenbei gute Laune durch Einsichten wie: „Wenn Sie das Stück, das gerade gespielt wird, wirklich verstehen wollen, dann achten Sie nicht auf die Darsteller. Achten Sie vielmehr auf den Tanz der Einflüsse, dem die Schauspieler unterworfen sind.“

3) Meike Winnemuth: Das große Los (Knaus, 336 Seiten, 19, 99 €.)

Was würden Sie tun, wenn Sie ein kleines Vermögen in einer Quizshow gewönnen? Die Journalistin Meike Winnemuth entscheidet sich für eine einjährige Weltreise von Addis Abeba über Mumbai, Buenos Aires und Honolulu nach Havanna. Eine ihrer Erkenntnisse: „Ich bin in diesem Jahr unglaublich gut in ,Love it, change it or leave it.’ geworden.“ Ein Buch, aus dem man weit mehr lernen kann als Kofferpacken.

2) Hannes Jaenicke: Die große Volksverarsche (Gütersloher Verlagshaus, 192 Seiten, 17,99 €.)

Selten habe ich bei der Lektüre so häufig zustimmend genickt. Die Banken, die Pharmaindustrie, die Lebensmittelmultis, die Autolobby, die Plastikseuche, das Product Placement im Fernsehen: All das sind lohnende Ziele für ein Buch mit kritischen Konsumentenappellen. Leider fehlt aber eine Warnung vor dem Gütersloher Verlagshaus, einem Imprint des Großkonzernverlags Random House, in dem Kraut und Rüben versammelnde Sachbücher erscheinen, die im Detail vollkommen richtig, in der Summe aber durch ihre pedantische Selbstgefälligkeit unerträglich sind. In seinem Dauerfuror erinnert Hannes Jaenicke an jenen Mann, der einen empörten Brief ans Finanzamt schreibt mit dem Vorwurf, diesem gehe es offenbar nur ums Geld.

1) Florian Illies: 1913 (S. Fischer, 320 Seiten, 19, 99 €.)

Illies erzählt das Jahr 1913 als amüsante historische Nummernrevue: In Wien wundert sich Sigmund Freud, wie tief Arthur Schnitzler mit der Methodik des Dichters ins Reich der Psychoanalyse einzudringen vermag; der Dresdner Heinrich Kühn revolutioniert die Fotografie und notiert in sein Tagebuch „Der Sündenfall hat zweierlei Gestalt: die Sozialdemokratie. Und den Kubismus.“ In Paris veröffentlicht Marcel Proust den ersten Band der „Recherche“ und provoziert Anatole France zu einer der berühmtesten Literaturkritiken aller Zeiten: „Das Leben ist zu kurz und Proust zu lang.“ Wir haben uns daran gewöhnt, das Jahr 1913 als einen Endpunkt zu betrachten, als das Jahr, das das Ende des langen neunzehnten Jahrhunderts markiert, das Ende eines großbürgerlichen Lebensstils und einer Welt, die im Ersten Weltkrieg untergeht. Vielleicht müssen wir 1913 aber auch als Anfang denken, legt Florian Illies nahe, als einen möglichen Beginn der Moderne.

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