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In der Umkleide der Nebenfiguren. Paula (Fine Sendel) im gelben Kleid und ihre Mutter (Juli Böwe, vorne) in „The Ordinaries“.

© J.L. Walter, Szenenbild J. Lindner & M.-J. Schönborn, Kostümbild S. Peters © Bandenfilm

Aufstand der Nebenfiguren: Die Satire „The Ordinaries“ feiert das filmische Erzählen

Wer will schon die Nebenfigur im eigenen Leben sein? Sophie Linnenbaums originelles Kinodebüt macht aus dieser Frage eine Satire auf die Klassengesellschaft.

Gewöhnlich ist so gar nichts an diesem Kinodebüt, auch wenn es „The Ordinaries“ heißt. Sophie Linnenbaums Abschlussfilm an der Babelsberger Filmhochschule strotzt nur so vor Originalität, Eloquenz und Witz. Erstaunlich auch deshalb, weil die vom „Kleinen Fernsehspiel“ des ZDF koproduzierte Tragikomödie über ein so formbewusstes cinephiles Szenenbild verfügt, dass sie richtig schick und teuer aussieht – und den Szenenbildnern Josefine Lindner und Max-Josef Schönborn prompt eine Nominierung zum Deutschen Filmpreis bescherte.

„Das da ist meine Mutter. Also nicht die da vorn, die da hinten“, tönt eine Teenagerstimme aus dem Off, während auf der Leinwand ulkige Ausschnitte aus Defa-Kostümschinken vorüberziehen. Ja, welche ist denn nun die Mutter? „Die da mit dem Häubchen, die da links, die da drüben“, spricht Erzählerin Paula weiter und bekennt: „Meine Mutter ist eine Nebenfigur.“

Nur die Hauptfiguren machen schöne Musik

Autsch, das ist viel schlimmer als Alkoholikerin. Eine Nebenfigur hat weder Storyline noch aufregende Szenen oder gar Musik. Sie ist uniformes beiges Lückenfüllerfutter und genauso sehen Paula und ihre Mutter in dieser Filmwelt auch aus. So blass und unauffällig gewandet wie die Nachbarn in ihrer Hochhauswohnwabe, aus der sich allmorgendlich eine durchchoreografierte Ameisenstraße von Nebenfiguren zur Arbeit in Bewegung setzt.

Mit Musik geht alles besser. Hauptfiguren wie die Coopers leben wie im Musical.
Mit Musik geht alles besser. Hauptfiguren wie die Coopers leben wie im Musical.

© J.L. Walter, Bandenfilm

Bei den Hauptfiguren, die in der Filmwelt am Anfang der Nahrungskette stehen, geht es da ganz anders zu. Da ist jeder Tag ein Fest. Musik, Gefühle, Farben, alles gibt es im Überfluss. Bei den Coopers, der Familie von Paulas bester Freundin Hannah (Sira-Anna Faal), verwandelt sich eine banale Alltagsszene sofort in ein Musical, in dem Frau Dr. Cooper (Denise M’Baye) und Herr Cooper (Pasquale Aleardi) singend und tanzend durch die eigene Villa schweben.

Ganz anders als der sichtlich dem Glanz klassischer Hollywood-Musicals nacheifernde Retrolook der Hauptfigurenwelt lebt die Outlaw-Kaste der Outtakes, die es nicht in den fertigen Film geschafft haben. Sie hausen verachtet am Rand der Stadt und rackern in einer dampfenden Geräuschefabrik. Eine Kulisse, die – genau wie die Wohnwaben der Nebenfiguren und das alles überwachende „Institut“, die autoritäre Zensureinrichtung – an Science-Fiction-Dystopien erinnert. Und zugleich an die dysfunktionalen Absurdwelten von Charlie Kaufman und Giorgos Lanthimos.

Uniform und farblos. Die Wohnwaben der Nebenfiguren in „The Ordinaries“.
Uniform und farblos. Die Wohnwaben der Nebenfiguren in „The Ordinaries“.

© DoP V. Selmke, Szenenbild J. Lindner & M.-J. Schönborn, Kostümbild S. Peters © Bandenfilm

Ausgerechnet Musterschülerin Paula, die Klassenbeste im Kliffhängen, bringt die Hierarchie durcheinander. Newcomerin Fine Sendel verkörpert sie mit hinreißender Unschuldsmimik. Wie sich das für einen Metafilm über Filmgeschichte, Filmemachen und Filmerzählen gehört, der das Medium an sich reflektiert, bringt eine Veränderung gleich die ganze Welt ins Wanken.

Hier ist es der Zweifel an der wahren Identität des Vaters und dem Bauplan ihrer Welt, der Paulas Herzleser plötzlich Katzenmusik zur szenischen Untermalung spielen lässt. Den Kinderglauben fahren lassen, Klassengesellschaft und Herkunft hinterfragen: „The Ordinaries“ ist nicht nur eine Hommage an und Satire auf das filmische Erzählen, sondern auch eine Coming-of-Age-Geschichte.

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Selbstredend mit einer zarten ersten Liebe. Simon (Noah Tinwa) ist ein Outtake mit Schnittproblemen. Seine Sätze und Bewegungen sind zerhackt. Auch Synchronitäts- und andere Tonprobleme sind eine verbreitete Macke unter den Outtakes. Paulas anderer Verbündeter ist eine „Fehlbesetzung“: Hilde, das männliche Hausmädchen der Coopers, das die privilegierte Familie beschäftigt, um soziales Bewusstsein zu zeigen. Ein abgedrehtes Metaversum voller nerdiger Figuren.

Ein abgedrehtes Metaversum

Sehr erstaunlich, wie stringent und fantasievoll Linnenbaum ihr abgedrehtes Metaversum baut und bevölkert. Inklusive nerdiger Links für Filmfreaks. Aber genau das macht es auch schwer, „The Ordinaries“ als Statement gegen Ausgrenzung und Klassismus ernst zu nehmen.

Das Leid der Nebenrollen und Outtakes, das sich in der Aula der Hauptfigurenschule in einer klassischen Hollywood-Klimax entlädt, als Paula einen sentimentalen Monolog hält, geht in den Manierismen der überwältigenden Verpackung unter. Auch der manchmal zu insiderische Abstraktionsgrad der Filmwelt erschwert die Identifikation.

Nicht jedoch im Fall von Paula und ihrer Mutter, deren Handicap, als Nebenfigur nur über ein begrenztes Repertoire an Sätzen und Handlungsmustern zu verfügen, Jule Böwe in ihrer feinnervigen Unbeholfenheit ganz wunderbar trifft.

Dieses Mutter-Tochter-Drama, das Sophie Linnenbaum in immer dieselben Begegnungsschleifen bannt, die dann doch immer wieder anders aufgelöst sind, bewegt. Nicht nur unter Nebenfiguren fällt es Kindern und Eltern schwer, einander als Menschen zu erkennen. Kein Moment eignet sich besser zu dem Happy End, das einen Film erst zum Kinomärchen macht.

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