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Kultur: Aus der Tiefe des Himmels

Der Essayist Karl Heinz Bohrer erhält den Heinrich-Mann-Preis der Akademie der Künste

Auch wer den ebenso polemisch wie prägnant formulierenden Essayisten und Literaturwissenschaftler Karl Heinz Bohrer nicht kennt, hat vermutlich schon einmal einen von ihm geprägten Gemeinplatz gehört: Dass Günter Netzer aus der Tiefe des Raumes vorstieß, geht zumindest sprachlich auf Bohrer zurück. Für ihn war Netzer in den siebziger Jahren einer der wenigen Fußballer, der, wie er sagte, Thrill hatte, dem Überraschendes gelang, fantastisch und kühl zugleich.

Aus der Tiefe des Raumes stammt auch die Entscheidung der Akademie der Künste, Karl Heinz Bohrer den diesjährigen Heinrich-Mann-Preis für Essayistik zu verleihen: Er stelle, so die etwas altväterliche Begründung der Jury, nicht zuletzt für die jüngere Generation ein Vorbild gelebter Wissenschaft dar. Doch zunächst scheinen der sozialkritische „Zivilisationsliterat“ und der zwischen Gesellschaft und Kunst unüberbrückbare Hindernisse auftürmende „Merkur“-Herausgeber eher himmelweit voneinander entfernt zu sein, was ihre Bestimmungen von Kunst betrifft: ästhetischer Rigorismus hier, Gesellschaftssatiren wie „Professor Unrat“ oder „Der Untertan“ dort.

Diesen Umstand versucht Gustav Seibt in seiner Laudatio bei der Preisverleihung am Sonntag in der Akademie am Pariser Platz erst gar nicht zu verschleiern: „Was um Himmels Willen hat der Essayist Karl Heinz Bohrer mit Heinrich Mann zu tun?“ Wie so oft, wenn Gegensätze pointiert werden, fallen auch Gemeinsamkeiten auf. Seibt findet sie in dem, was er „Karikatur in geschriebener Gestalt“ nannte.

Dabei spielt er die Verbindung zwischen Mann und Bohrer nicht direkt aus, sondern nutzt Charles Baudelaire, einen der Bohrer’schen Hausheiligen, geschickt als Bande: Um 1860 hatte Baudelaire drastisch gegen die Stadt Brüssel und ihre Bewohner polemisiert. Die Brüsseler Mode erschien ihm abgeschmackt, die Frauen schlecht geschminkt und ebenso unflätig wie die Männer, denen er auch noch nachsagte, dass sie ständig gegen Laternenpfähle oder Passanten laufen würden. Über Baudelaire zieht Seibt schließlich eine Verbindungslinie von Heinrich Manns satirischen Darstellungen des Wilhelminismus bis zu Bohrers Sezierungen des deutschen Kulturhaushalts der achtziger und neunziger Jahre, bei dem er ein Defizit an Formbewusstsein und einen Überschuss an Unmittelbarkeit diagnostizierte. Diese Disproportion von sozialer Rolle und Körperlichkeit machte Seibt als zentrales gemeinsames Mittel der Sozialkarikaturen von Baudelaire, Mann und Bohrer aus.

Der 74-jährige Geehrte indes dankt die Hinweise auf das Karikaturistische, indem er in seiner Preisrede nicht weiter darauf eingeht. Stattdessen verweist Bohrer darauf, dass Heinrich Mann – nach Jacob Burckhardt und Friedrich Nietzsche – die dritte Gründungsfigur einer verspäteten Renaissance in Deutschland gewesen sei. Vor allem in seinem Exilroman über den französischen König Henri Quatre (1553 – 1610) habe Mann, so Bohrer, der Renaissance ein menschliches Antlitz verliehen – ein Antlitz, das uns, „berührt, amüsiert und erhebt“. Damit wiederum sei nicht nur eine humane Utopie skizziert worden, die sich gegen die nationalsozialistische Herrschaft gerichtet habe, sondern es sei auch der stilistische Schlüssel zu einem sinnlichen Großmut geformt worden, wie ihn Mann – stärker als an jedem anderen Ort – im südfranzösischen Exil gefunden habe.

Entsprechend rühmt Bohrer die Anschaulichkeit von Manns Roman, in dem es schon eingangs heißt, dass sich der Blick des Knaben in der „Tiefe des blau schwebenden Himmels“ verliere und vor diesem tobend das Meer „aus dem Unendlichen“ anrolle.

Was diese Tiefe des Himmels, die am Anfang von Heinrich Manns Roman und am Ende von Karl Heinz Bohrers Rede steht, wiederum von der Tiefe des fußballerischen Raumes unterscheidet, ist ihre Unendlichkeit. Und auch Manns und Bohrers Werke bilden ästhetische Parallelen, die sich erst im Unendlichen schneiden – auch wenn in der Berliner Akademie der Künste solche Überschneidungen an anderen Orten gefunden wurden, allerdings nur für einen instruktiven, aber endlichen Abend lang.

Thomas Wegmann

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