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Arrangement mal anders: Detail aus der Ausstellung "Chinese Whispers".

© Bernd Borchardt

Ausstellung "Chinese Whispers": Eins und eins macht viele

Der Künstler Ingo Mittelstaedt präsentiert die Sammlung Peter Raue im Haus am Waldsee. Dabei geht es der Frage nach, wie Kunst unsere Wahrnehmung verändert.

Was geschieht, wenn man ein winziges Farbkissen von Gotthard Graubner neben eine leere Flasche mit der Aufschrift „The Manuscript“ von Marcel Broodthaers legt und dazu eine Rolle Klebeband in Graubners hautfarbenem Puderton legt? Graubner bleibt Graubner, Broodthaers bleibt Broodthaers, die Nachbarschaft verstärkt seinen Esprit. Nur die Rolle Klebeband verwandelt sich in der Nachbarschaft zur Kunst selbst zu einem geheimnisvollen Wesen.

Wie verändert Kunst unsere Wahrnehmung? Wie ändern sich die Werke im Dialog der Künstler, fragt die kluge Ausstellung zum 70. Geburtstag des Hauses am Waldsee. Der Titel „Chinese Whispers“ bedeutet auf Deutsch Stille Post. Für das Experiment hat der Künstler Ingo Mittelstaedt Werke aus der Sammlung Peter Raue mit eigenen Fotoarbeiten und Fundstücken so kombiniert, dass neue Beziehungen entstehen.

Katja Blomberg, die Direktorin des Hauses, hatte die ungewöhnliche Idee, als sie erstmals die wenig bekannte Privatsammlung sah. Großherzig erteilte der Rechtsanwalt dem Künstler Carte blanche. Mittelstaedt durfte sich aus den 600 Werken in der Kanzlei bedienen und aus denen in Raues Charlottenburger Dachwohnung. So wunderte sich Mittelstaedt, dass ein Blatt von Marcel Duchamp im Badezimmer hing. Und der Sammler staunte nicht schlecht, als der Künstler von seinen schönen Graubner-Bildern ausgerechnet das Kleinste aussuchte.

"Der Gedanke des Zeigens ist ein Antrieb für künstlerisches Schaffen"

Die Sammlung Raue, oder „Ansammlung“, wie Ingo Mittelstaedt sie nennt, entstand aus Freundschaften, Liebhaberei und Mandaten. So erfährt man in dieser Ausstellung über Beziehungen natürlich auch Berliner Anekdoten. Im Auftrag der Bildhauerin Ingeborg Hunzinger erstritt Peter Raue das Honorar für das Denkmal an der Rosenstraße. Ingo Mittelstaedt, Jahrgang 1978, wuchs in Köpenick auf. Seine Mutter war verantwortlich für die Kunst am Bau im Bezirk Rahnsdorf. Als Kind spielte er im Atelier von Ingeborg Hunzinger. Jetzt hat er eine kleine Bronze aufs Podest im Gartensaal gestellt. „Ich liebe diese Arbeit, die ,Segelnde Erde’“, sagt Peter Raue und nimmt die Plastik hoch.

Kunst in Privatsammlungen wird angefasst. Und so sind Hände ein Grundmotiv der gesamten Präsentation. Tagelang hat der Künstler die Werke mit eigenen Händen hin- und hergetragen. Wichtig ist ihm die Geste. „Der Gedanke des Zeigens“, sagt er, „ist ein Antrieb für künstlerisches Schaffen.“ Ein zweiter ist die Begeisterung, die sich überträgt.

Jacob Mattner montierte seine Skulptur „Kopf“ aus Glas selbst. Das feine Spiel von Lichtreflexen und Material ist allein die Fahrt nach Zehlendorf wert. Ingo Mittelstaedt kombiniert die feinen transparenten Bögen mit eigenen Fotos von zart geknüllter Klarsichtfolie und den Zahlenkolonnen von Hanne Darboven zu einem hellsichtigen Dialog über die unendlichen Variationen von Chaos und Ordnung, Volumen und Fläche, Wert und Abfall. Ein Konvolut aus der Sammlung ließ der Künstler allerdings unangetastet. Den Rebecca-Horn-Raum übertrug er eins zu eins aus der Kanzlei am Potsdamer Platz in die Argentinische Allee.

Durch die ungewöhnliche Kombination treten die einzelnen Arbeiten plastisch hervor

Jetzt klappert ein königsblauer Falter mechanisch mit den Flügeln, darüber fällt ein Geigenbogen verzweifelt ins Leere. Und natürlich sind die schwarzen Samthandschuhe mit den meterlangen Fingern zu sehen aus der Performance „Scratching both walls at once“. Die Arbeit aus der Studienzeit von Rebecca Horn gehöre zu seinem Leben, sagt Peter Raue. Ihn verbindet eine tiefe Freundschaft mit der Künstlerin. Kaum jemand kann so persönlich und diskret über die Quintessenz ihrer Kunst sprechen wie der Sammler, über die Gleichzeitigkeit von Neugier und Vorsicht, Wagemut und Verletzlichkeit.

Sehen wir beim Betrachten der Kunst gar nicht das, was wir sehen, sondern immer nur einen Reflex unserer selbst, fragt der amerikanische Lyriker Wallace Stevens in seinem Gedicht „Der Mann mit der blauen Gitarre“. Seine Verse zum Verhältnis zwischen Kunst und Betrachter geben den schwebend leichten Ton der Ausstellung vor. Wallace Stevens bezieht sich auf ein Gemälde von Pablo Picasso „Der alte Gitarrenspieler“ aus dem Jahr 1903. Über siebzig Jahre später verarbeitet David Hockney das Bild von Picasso und die Verse von Wallace Stevens in seinem Grafikzyklus „The Blue Guitar“.

Er hängt jetzt komplett im Gartensaal des Hauses am Waldsee und wird seinerseits von Ingo Mittelstaedt zitiert. Er gliedert die Räume mit blauen Vorhängen – eigentlich fotografischen Werken, sogenannten Cyantypien. Dafür hat der Künstler Stoffbahnen mit Entwicklerlösung getränkt und dann dem Sonnenlicht ausgesetzt. Die UV-Strahlung färbt den Stoff himmelblau. Das Gras, die Sonne und der Himmel sind als Wirklichkeit in der Arbeit ebenso enthalten, wie das Blau von David Hockney und Pablo Picasso.

Mit solchen Gesten bereitet Mittelstaedt der Sammlung Raue die Bühne. Durch die ungewöhnliche Kombination treten die einzelnen Arbeiten plastisch hervor. Die Besucher müssen ihren Blick immer neu justieren. Dahinter steht eine Haltung voll Respekt und Feingefühl. Die Botschaft der Stillen Post klingt im altmodischen Sinn edel.

Haus am Waldsee, Argentinische Allee 30, bis 28.8.; Di bis So 11 - 18 Uhr

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