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Sammelleidenschaft. Koffer von Ilse P.

© Hillgruber

Ausstellung: Die Hüte der Ilse P.

Zeit ihres Lebens hat Ilse P. in ihrer 35 Quadratmeter großen Wohnung in Berlin-Karlshorst alles gehortet und gesammelt. Ihr persönliches Archiv ist eine Fundgrube für den Alltag in der DDR. Das Heimatmuseum Falkensee zeigt es unter dem Titel „Aufgehobene Dinge. Ein Frauenleben in Ost-Berlin“.

„Die Lust der Menschen, für sie reizvolle Gegenstände zusammenzutragen, führt oft zu eigenwilligen, interessanten Gestaltungsmöglichkeiten für die Wohnung“, heißt es in der Kleinen Enzyklopädie „Die Frau“, 1979 herausgegeben vom VEB Bibliographisches Institut Leipzig. In vermeintlicher Harmlosigkeit führt das vielkonsultierte Standardwerk für Mode-, Gesundheits- und Einrichtungsfragen weiter aus: „Gläser, Schnitzarbeiten, Zinn- und Metallgegenstände, bibliophile Schätze, schöne Steine, Teller, Puppen, Münzen, Barometer, kleine Wandteppiche, Porzellane usw. können uns an Wänden, Raumteilungen, auf Leisten, Borden, Schränken, ja sogar in freistehenden und beleuchteten Glasvitrinen begegnen.“

Es ist nicht bekannt, ob die Ost-Berliner Sekretärin Ilse P. diese Hinweise bei der Einrichtung ihres 35 Quadratmeter großen Privatuniversums beherzigt hat. Möglicherweise ließ die geschiedene, als gesellig beschriebene Frau 1979 – da war sie sechzig Jahre alt – auch schon niemanden mehr in ihre Wohnung in der Gundelfinger Straße in Karlshorst. Das galt sogar für ihre Schwester, die damals in West-Berlin lebte. Denn was in „Die Frau“ als  Aufzählung unterschiedlicher Sammelleidenschaften gemeint war, das nahm Ilse P. wörtlich: Insgesamt 4800 Gegenstände bewahrte sie wohlgeordnet in ihrem Einzimmer-Appartement auf. Dieses war fast komplett mit Kartons und Koffern gefüllt, so dass die Bewohnerin kaum mehr Platz für sich selbst hatte. Im Heimatmuseum Falkensee ist der Grundriss auf dem Boden nachgezeichnet. Das kleine Museum blickt auf einen verwunschenen Rosengarten. Gabriele Helbig und ihre Mitarbeiter haben ihn zu Ehren der Falkenseer Dichterin Gertrud Kolmar angelegt, die 1942 ins KZ deportiert wurde.

Mit „Aufgehobene Dinge“ ist in Falkensee die denkbar ungewöhnlichste Ausstellung mit DDR-Inventar zu sehen. In einer  „Mischung aus Erstaunen und Ratlosigkeit“ habe er den gewaltigen Nachlass der 2004 verstorbenen Stenokontoristin gesichtet, sagt Andreas Ludwig, Leiter des Dokumentationszentrums Alltagskultur der DDR in Eisenhüttenstadt. Dort sind die Tausende von Gegenständen archiviert, von denen nur ein Teil in Falkensee präsentiert werden konnte – aus Platzgründen.

Dieses Problem kannte Ilse P. scheinbar nicht. Ihre außergewöhnliche Sammelleidenschaft konzentrierte sie auf drei Bereiche: Accessoires für die Dame wie Schuhe in ihren Originalkartons („Damen-Mokassins Rustico-Rind türkisgrün“), Hand- und Einkaufstaschen, Broschen, Schals, Modeschmuck, Kämme etc., alles noch funktionstüchtig. Als zweites Gebiet hortete sie schmückende Gegenstände für die Wohnung und zum Empfang von Gästen wie Bastdeckchen, Weihnachts- und Osterdekoration, Schalen, Dosen, Untersetzer, „Haru“-Tropfdeckelchen in der 100er-Packung („EVP M 1,30“) oder einen „E.C.E. Doppelsimshobel, verstellbar, Weißbuche lackiert“. Und schließlich lebte sie ihre offenbar berufsbedingte Leidenschaft für schöne und in der Formgebung ungewöhnliche Schreibutensilien aus, wie den „WeltPen Favorit“ oder Büttenpost der Marke „Lettres d’amour“. Sie selbst führte seit frühester Jugend Protokoll über ihre Ausgaben und Einkäufe, notierte aber nie Privates. Die Person verschwand völlig hinter den Dingen, etwa wenn sie am 15. April 1942, mitten im Krieg, festhielt: „Strohhut umpressen 4 RM, für braune Schnalle 2,90 RM, für Kino „Heimaterde“ 1 RM“.

Es scheint, schreibt Andreas Ludwig im Ausstellungkatalog, als habe sich die Tochter eines Regierungsoberinspektors, die zufällig in den Sozialismus geriet, allzeit für ein Leben als „Herrin eines großen, gutbürgerlichen Haushalts“ wappnen wollen. Ilse P.’s Mitgliedsausweis der NSdAP ist zu sehen, daneben der des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes der DDR. Seit 1937 hatte sie als Büroangestellte der NS-Volkswohlfahrt gearbeitet. Nach dem Krieg war sie offenbar Trümmerfrau und verbrachte schließlich den Großteil ihres Berufslebens bis zur Pensionierung bei einem Ost-Berliner Betrieb für die Entwicklung und den Export von Industrieanlagen. Auf dem Weg zur Arbeit musste sie am Alexanderplatz umsteigen, wo sich ein Kunstgewerbeladen befand, bei dem sie sich regelmäßig eindeckte. Ilse P. lebte als heimliche Materialistin in einem Land, in dem Eigentum ideologisch keine Rolle mehr spielen sollte. Andererseits legte die DDR großen Wert auf das eigenständige, am Bauhaus orientierte Design ihrer Konsumgüter, frei nach dem Motto „Gut gekauft, gern gekauft“. Auch das ist einer der vielen Widersprüche, die diese Ausstellung offen legt.

„Je mehr Erklärungsansätze erwogen werden, je deutlicher wird, dass eine eindeutige Interpretation nicht möglich ist“, schreibt Kurator Ludwig. So symbolisieren die 4800 Gegenstände nicht nur die Lebensgeschichte der Ilse P., sondern auch in Filzhüten und Schreibmappen aus Kunstleder konservierte Zeitgeschichte. Einige wenige Fotos zeigen sie lachend bei Betriebsausflügen. Fiel den Kolleginnen nicht auf, welche Fülle an modischen Accessoires Frau P. besaß? War sie eine Übertreibungskünstlerin im Sinne Thomas Bernhards? Kaufte sie, um einen Verlust zu kompensieren, um sich zu trösten? Der Stapel von 18 Baskenmützen, die alle wie neu wirken, gibt darauf keine Antwort.

Noch bis 2. Oktober im Museum und Galerie Falkensee, Falkenhagener Str. 77, 14612 Falkensee, Tel. 03322/222 88. Dienstag und Mittwoch 10-16 Uhr, Donnerstag, Samstag und Sonntag 14-18 Uhr. Der Katalog (Verlag Karl-Robert Schütze, Berlin) kostet 12 Euro.

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