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Jorinde Voigt

© Doris S.-Klaas

Ausstellung: Fieberkurve

Jorinde Voigt zeigt komplexe Zeichnungen bei Fahnemann Projects in Berlin.

Sie hat Cello gespielt. Früher. Ein „bildungsbürgerliches Standardprogramm“ nennt die Berliner Künstlerin Jorinde Voigt ihr Saitenspiel etwas abschätzig und gibt doch zu, dass die Musik ihre Kunst geprägt hat. Tatsächlich ähneln ihre Zeichnungen den Partituren von John Cage oder Karlheinz Stockhausen. Jede Haarnadelkurve aus Liniensträngen sieht aus, wie ein Glissando klingt.

Wenn es so einfach wäre. Voigts Tinten- und Bleistiftzeichnungen auf Papier in der Galerie Fahnemann Projects sind aber keine Notenblätter (900–19 000 Euro). In den Algorithmen steckt ein komplexer Ideenkosmos, den die 30-Jährige mit Engelsgeduld erläutern kann. Trotzdem ist er schwer zu begreifen. „Ich arbeite ganz konkret abstrakt“, sagt die in Künstlerin mit schelmischem Unterton. Voigt zeichnet auffliegende Adler, Bombenexplosionen oder küssende Paare. Aber zu sehen sind weder leibhaftige Greifvögel noch Verliebte. Mit dem Stift schreibt Voigt Zahlenkolonnen hin, zeichnet konzentrische Kreise, Pfeile und – vor allem – Linien. Aus diesen konstruktiven Elementen baut sie Zeichensysteme, deren innovative Kraft den Betrachter anspringt wie gerissene Cellosaiten. Man staunt. Über Zweigstrukturen, die federleicht über die Blätter tanzen. Oder über unzählige Fäden, die wie Kette und Schuss miteinander verwoben sind und sich teils chaotisch ineinander verwirren.

Die Zeichnerin aber muss den Überblick behalten. Keinen Bogenstrich darf sie vergeigen, sonst ist das Blatt hinüber. Jorinde Voigt deutet auf ein besonders zartes Fadenflechtwerk im Entrée der Galerie: „Elf Stunden täglich habe ich daran gezeichnet, sechs Wochen lang. Das ist wie Leistungssport.“

Die Arbeit lohnt sich. 2006 hat sie den Herbert-Zapp-Preis für junge Kunst bekommen, kürzlich auch den begehrten Gasag-Förderpreis. Schon jetzt zieren ihre Zeichnungen private und öffentliche Sammlungen, so hat das Kupferstichkabinett im vergangenen Jahr einen ihrer „Adlerflüge“ erworben.

Man hat die kurvenreichen, aber doch zielstrebigen Zeichnungen im Hinterkopf, wenn Jorinde Voigt ihren Weg zur Kunst schildert. „Mit dem Cellospielen habe ich nebenbei sogar Geld verdient, aber Berufsmusikerin wollte ich nie werden“, erzählt die Künstlerin, die in Göttingen erst Philosophie und Soziologie studierte und irgendwann in Berlin, in der Akademieklasse der Fotokünstlerin Katharina Sieverding landete. Dem Medium Fotografie stand sie allerdings skeptisch gegenüber: „Ich hatte das Gefühl, bereits gemachte Bilder wurden immer wieder reproduziert", sagt Voigt. Vor vier Jahren in Indonesien kam ihr dann die Idee mit den Notationen. Auf ihren Skizzenblock zeichnete sie zuerst eine Zeitleiste. Neben- und übereinander wurden dann akustische, klimatische oder olfaktorische Ereignisse notiert: Mopeds, die vorüberfuhren, Radiomusik, die aus Cafés erklang, Petroleumgeruch, den der Wind herbeitrug.

„Heute sind die Anlässe utopisch“, sagt Jorinde Voigt. 100 gleichzeitig startende Adler wird man genauso wenig beobachten können wie ein Paar, das sich 240 Minuten lang küsst. Auch haben sich die Diagramme gewaltig differenziert. Sie erinnern an Fieberkurven, Oszillogramme, handgeschriebene Börsentabellen oder Flugpläne – und manchmal an alles auf einmal.

Als künstlerisches Rohmaterial dient ein Reservoir an Symbolen individueller Mythologie, die der Natur oder dem soziokulturellen Bereich entstammen. Darunter ist die Adlerfigur das komplexeste Bild: „Ich denke an die symbolische, mythologische, heraldische und biologische Bedeutung des Adlers“, erklärt die Künstlerin. Ihre Kunst strebt zur Totalität, spinnt Weltmodelle.

Die einen berauschen sich bloß an der formalen Dynamik dieser Zeichenfugen. Die anderen wollen es genauer wissen. Häufig greift Jorinde Voigt so wie auch Mario Merz auf die sogenannte Fibonacci-Reihe zurück, mit der im Jahr 1202 erstmals dynamische Geschehen (zum Beispiel Kaninchenvermehrung) mathematisch beschrieben werden konnte. Voigts gezeichnete „Geräusch-Apparate“ schließlich bestehen aus entsprechend aufeinandergerechneten, sich überlagernden „Popsongs“ einer Top-10-Hitliste. Das will die Künstlerin jetzt auch hörbar machen: Während der Finissage soll ein Computerprogramm die Charts in der Galerie streng nach Notation teils nacheinander, teils gleichzeitig abspielen. Und ihr altes Cello? Das wird zurzeit repariert.

Galerie Fahnemann Projects, Gipsstraße 14. Bis 21. Juli, Dienstag bis Sonnabend 12–18 Uhr.

Jens Hinrichsen

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