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Ausstellung: Geister betrachten

Wenn es kälter wird, macht es wieder Sinn ins Museum zu gehen. Nicht nur wegen der Ausstellungsstücke.

Der Herbst ist gekommen. Mein erster in Berlin. Jetzt fällt mir wieder das runzlige Weiblein vom Kollwitzplatz und seine Warnung ein: „Such noch vor dem ersten Frost das Weite, o zart gewirkter Rheinländer, sonst büßt du bitter.“

Überhaupt spricht man Ungutes über den Winter in Berlin: Die Farben, nur Grau, Weiß, Braun. Den Leib prügelnde Kälte. Die Seele zersetzende Finsternis. Man munkelt gar, der sonst so freundliche Berliner würde sauertöpfisch. Berlin: Im Sommer Dr. Jekyll, im Winter Mr. Hyde.

Ich muss mich vorbereiten: Sport, Johanniskrautdragees, eine Dauerkarte für die Sonnenbank. Auch die Seele will präpariert sein. Auf der Suche nach innerer Einkehr gerate ich in die Anlagen der Charité. Mir ist, als geleite mich ein Geist aus dem 19. Jahrhundert zwischen den Backsteinbauten geradewegs hinein ins medizinhistorische Museum, das früher irreführend „Pathologisches Museum“ hieß.

Dort erwartet mich eine Auslese aus der gewaltigen Präparatesammlung des Mediziners Rudolf Virchow: Über 700 Glasbehälter voll vor sich hin kränkelnder Körperteile. Ich, der einzige Besucher, betrachte die Leber eines Alkoholikers und werde nachdenklich. Danach stehe ich lange vor einem Dickdarm, der seinem Namen alle Ehre macht. In der letzten Regalreihe stehen eingemachte Missgeburten. Verdrossen blicken mich verwachsene Embryos und krank geborene Babys an. Flaschengeister. Je länger ich aber im Schneidersitz vor den siamesischen Zwillingen und Wasserköpfen sitze, desto mehr erkenne ich, wie flüchtig die Gefühle des Ekels und des Schreckens sind. Bald schon scheinen mir die Wichte nicht mehr hässlich. Noch nicht einmal mitleiderregend. Ein warmes Gefühl macht sich in mir breit. So warm, dass ich kurz glaube, damit einen ganzen scheinbar hässlichen Winter in Berlin überstehen zu können. Dann stürmt eine Schulklasse herein. Wurstige Finger zeigen auf die Krüppel in Gläsern. Ein kleines bisschen Horrorshow. Zeit zu gehen. Anselm Neft

Medizinhistorisches Museum der Charité, Charitéplatz 1. www.bmm.charite.de.

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