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Autorenporträt: Michel Serres in Berlin

Gedanken auf den Füßen der Taube: Michel Serres gilt als Ideenüberfluter. Am Wochenende lud ihn das Haus der Kulturen der Welt zu einer Lesung an die Spree.

Ja, lächelt Michel Serres, seine Bücher würden zuweilen etwas spät übersetzt. Aber das sei ein gutes Zeichen. Schnelle Übersetzungen seien bloß von vergänglichen Moden diktiert. Was er nicht sagt: Obwohl er nächsten Monat 80 wird, veröffentlicht er jährlich mindestens zwei neue Titel. Da kommt selbst ein fleißiges Verlagshaus kaum nach. Serres sitzt auf dem kleinen Spreedampfer „Don Juan“ und stimmt seine Zuhörer auf ein Wochenende ein, das sie so bald nicht vergessen werden. Ein Wochenende, an dem das Haus der Kulturen der Welt und der Merve Verlag zu „Sommergesprächen an der Spree“ geladen hatten und Michel Serres Berlin mit Ideen überflutete.

Die Idee mit dem Dampfer passt. Serres, Sohn eines südfranzösischen Flussschiffers, versteht viel von Ufern, Brücken und Schifffahrtswegen. Und natürlich vom Wasser, dem fluiden Medium, das alles verbindet. Serres denkt, als hätte eine intellektuelle Arbeitsteilung nie stattgefunden. Physik, Geschichte, Biologie, Soziologie, Ökologie oder Literatur – wie er die Disziplinen vereint, das ist fast eine Provokation. Philosophie soll hier immer noch heißen: das Ganze begreifen.

Als er anfing, erzählt Serres, herrschte eine Philosophie der Produktion – sei sie marxistisch oder kapitalistisch inspiriert gewesen. Ihr hat er seine eigene Philosophie der Kommunikation entgegengesetzt – in fünf Bänden. Zum wichtigsten Modell wurde ihm Hermes, der Götterbote, Beschützer der Kaufleute, der Diebe und Übersetzer – ein perfekter Mittler und eine Figur des Übergangs. Mit seiner Hilfe wollte er sie in Beziehung setzen, die Sprachen der Naturwissenschaften und der Literatur, der Algebra und der Mythologie. Das Projekt hat ihn zu einem internationalen Denker gemacht, mit Dépendancen an der Pariser Sorbonne und der amerikanischen Stanford University. Seit 1990 ist Serres zudem eines der derzeit 37 lebenden Mitglieder der Académie Française, einer der Immortels, der Unsterblichen.

Am Sonnabend traf er sich mit Alexander Kluge, einem weiteren Experten des enzyklopädischen Zusammendenkens, das sich mit essayistischem Kreuz- und Querdenken verschwistert. Kluge und Serres sprachen über die Evolutionsgeschichte der Libelle, Diderot, Leuchttürme, den Blutaustausch in Beinen von Mammuts, tektonische Platten unter Afghanistan und eine glückliche Unvollkommenheit namens Europa. Das funkelte, sprühte und glitzerte – es war ein Fest. Weil beide wissen: Die produktivsten Erfahrungen sind die ambivalenten, diejenigen, die in unscharfen Formen liegen, in Erzählungen und Bildern also, nicht in binär codierbaren Informationen.

Solche Erfahrungen zu machen, erfordert erhöhte Aufmerksamkeit. „Gedanken, die auf Taubenfüßen kommen“, spricht Serres Nietzsches Zarathustra nach, „lenken die Welt.“ Es braucht also ein feines Sensorium, um das Neue zu entdecken. Und es braucht eine Art epische Distanz, um langfristige Entwicklungen wahrzunehmen. Serres hält die stillen Veränderungen des letzten Jahrhunderts für die entscheidenden: den Übergang von der bäuerlichen zur urbanen Kultur, die enorm gestiegene Lebenserwartung, die Explosion der Weltbevölkerung.

Woher aber nimmt Serres den Mut, seine Allzusammenhänge herzustellen? Und das in Zeiten, in denen das Einzelne dem Allgemeinen den Rang abläuft, die Philosophie auf Differenz setzt und die großen Erzählungen verabschiedet sind? Es seien die Wissenschaften selbst, erklärt er, die zu den neuen Erzählern geworden sind. Weil sie den Menschen über seine Herkunft aus Afrika aufklären, weil sie die Entstehung des Universums im Urknall rekonstruieren. Hier fände eine neue Sinnstiftung statt.

Am Ende hat sich Serres selbst als großer Erzähler versucht. In einem Gesamtkunstwerk aus Text, Klang und Bild irrte er mit Orpheus durchs Mittelmeer und erkundete die Entstehung der Sprache. Diese Parabel in bester Nietzsche-Manier stieg hinab zum „Grundrauschen der Welt“, das jeder „Möglichkeit eines Sinns vorausgeht“. Sie führte über die Musik zur Stimme des Orpheus und am Ende doch zum rationalen, diskursiven Sprechen. Darin allerdings ist das Chaos aufgehoben, nur gezähmt. Jederzeit kann es aufbrechen.

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