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BBC Symphony Orchestra: Sirenen in der Nacht

Das BBC Symphony Orchestra eröffnet das "Musikfest Berlin 09": Was für ein Konzert! Was für ein Festivalstart! Der offizielle Beginn des „Musikfest Berlin 09“ wird zu einem Abend, aus dem man mehr Anregungen und Denkanstöße mitnehmen kann als manchmal aus einer ganzen Saison.

Winrich Hopp, der künstlerische Leiter des herbstlichen Orchester-Gipfeltreffens, fordert sein Publikum heraus indem er ihm das ganz Besondere, das Außergewöhnliche anbietet. Und das sind eben nicht nur Stars wie Valery Gergiev, Gustavo Dudamel oder Bernard Haitink, das sind nicht nur Spitzenensembles wie das Concertgebouworkest Amsterdam, das Chicago Symphony Orchestra oder das London Philharmonic. Sie alle sind bis zum 21. September dabei, sorgen für Glanz und Glamour in der Philharmonie und im Konzerthaus, ganz so, wie man es sich beim Kulturstaatsministerium, dem Geldgeber der Berliner Festspiele, wünscht.

Doch all diese weltbekannten Interpreten fügen sich bereitwillig in ein anspruchsvolles inhaltliches Konzept, das Winrich Hopp beziehungsreich entworfen hat. Es geht um das 20. Jahrhundert, das Zeitalter der Extreme, der Weltkriege, um den Kampf der politischen Systeme und das unendliche Leid, mit dem vor allem Europa überzogen wurde, der Kernkontinent eben auch der klassischen Musik. Vor allem in den Werken von Dmitri Schostakowitsch und Iannis Xenakis spiegeln sich die Verwerfungen der Zeit wider, hier wird privates Unglück ebenso zu Klang wie Mitleid mit anderen Opfern. Darum stehen in diesem Jahr diese zwei Komponisten im Mittelpunkt.

Jene Werkzusammenstellung, die Hopp gemeinsam mit dem Dirigenten David Robertson und dem BBC Symphony Orchestra für das Eröffnungskonzert entworfen hat, kommt sofort programmatisch auf den Punkt: Es führt direkt in die Hölle. Zum Beispiel mit Sergej Rachmaninows 1909 komponierter „Toteninsel“, einem spätromantisch aufrauschenden Tonpoem, inspiriert von Arnold Böcklins berühmtem Gemälde. Ein tröstliches Stück, über weite Strecken getragen von einem warmen, weichen Streicherklang, in dem man sich geborgen fühlen kann: Nebelschwaden steigen über dem Wasser auf, sanft gleitet der Charons Barke ins Nachtdunkel.

In dieser Partitur ist alles enthalten, was die abendländische Kultur an Sublimierungstricks zu bieten hat. Reißt man aber dem traditionellen, harmoniesüchtigen Tonsystem seine Schutzpanzer ab, dann klingt dasselbe Thema so brutal real, so gnadenlos archaisch wie in Xenakis’ „Nomos Gamma“ von 1968. Holzbläser-Sirenen kündigen den Fliegerangriff an, dann Schlagwerk-Einschläge überall, tumultöse Streicher, die Menge gerät in helle Panik, wird von massivem Blech niederkartätscht, Kontrafagott und Tuba steigen in schwärzeste, schnarrende Tiefe hinab. Auch so kann Krepieren klingen.

Xenakis weiß, wovon er schreibt, er hat im griechischen Bürgerkrieg mitgekämpft, ein feindliches Geschoss entstellte sein Gesicht für immer. Dmitri Schostakowitsch wählt im Jahr 1945 einen anderen Weg, verweigert sich den Erwartungen der Stalinisten, die nach dem gewonnenen Krieg ein vaterländisches Jubel-Opus wünschen. Er flüchtet sich in die Ironie, hofft, all die Grausamkeiten, die diesem Sieg vorausgegangen sind, durch Distanz aushalten zu können, lässt motorisch geschäftigen Neoklassizismus auf Jahrmarktmusik prallen. Die Doktrin vom sozialistischen Realismus wird so als eine groteske Fratze entlarvt, ein virtuoses Ablenkungsmanöver, um nicht selber an den Verhältnissen zu zerbrechen.

Xenakis dagegen schreit seinen Seelenschmerz rücksichtslos heraus, lässt in „Ais“ den Bariton (Leigh Melrose) markerschütternd krächzen und krähen. Auf der Insel Korsika hat der Komponist solche Laute aus der Luft gehört, meinte, ganz in der Nähe würde ein Kind getötet.

Angst gerinnt zu Musik: Komm, großer schwarzer Vogel! Die Streicher breiten ihre Schwingen aus, im Saal rauscht es, was für eine Intensität. Ein existentielles Erlebnis dem man sich nicht entziehen kann, dass selbst die Profis des BBC Symphony Orchestra emotional so sehr anzugreifen scheint, dass in den letzten Minuten der Aufführung Erschöpfung unüberhörbar wird.

Es soll so weitergehen in den kommenden zweieinhalb Wochen, weitere Zumutungen werden folgen, so grandios dargeboten hoffentlich wie an diesem Freitag in der ausverkauften Philharmonie, so aufwühlend, so inspirierend. Es gibt Festivals, die funktionieren wie kommerzielle Partys: Man zahlt Eintritt und wird dafür unterhalten.

Winrich Hopp aber will ein Fest feiern, so wie bei einer privaten Einladung, wenn alle etwas beitragen wollen zum Gelingen des Abends. Mit Gleichgesinnten, mit Freunden kann man auch über ernste und letzte Dinge sprechen. Es wird gebeten, von Blumensträußen abzusehen und stattdessen lieber Aufmerksamkeit zu spenden.

Infos unter: www.berlinerfestspiele.de

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