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Kultur: Bei Rattle ist schon Frühling

Jahresausklang mit den Berliner Philharmonikern

O Fortuna! Das ist eine monumentale heidnische Messe, mit der sich die Berliner Philharmoniker, der Rundfunkchor und die Knaben vom Staats- und Domchor da vom Jahr 2004 verabschieden: Simon Rattle veredelt Carl Orffs tausendmal gehörte „Carmina Burana“ zur Klangfarbenfeier. Bunte Bühnenbilder und Tanzeinlagen wünschte sich der Komponist für das 1936 entstandene Oratorium – in der Philharmonie entstehen die fantastischen Visionen der „Cantiones profanae“ vor dem inneren Auge. Niemand braucht die Lichtstimmungen im Stil ballonseidener Trainingsanzüge, mit denen das ZDF die Bühne ausleuchtet (für die TV-Übertragung zu Silvester um 17.45 Uhr). Wie viel raffinierter sind die Instrumentalfarben der Musiker, die Klangmischungen der Chöre (Einstudierung: Simon Halsey und Kai-Uwe Jirka), die Verführungskünste der Solisten!

Plötzlich ist nichts mehr vulgär an diesem unechten Mittelalterspektakel, plötzlich wird klar, warum den Nazi-Musikzensoren Orffs Partitur „unverständlich“ und „artfremd“ vorkam. Was der gelernte Perkussionist Simon Rattle hier entfacht, erinnert immer wieder an Igor Strawinskys „Sacre du Printemps“: ein ins Positive gewendetes Frühlingsfest.

Bereits am 7. Januar soll ein CD-Mitschnitt der „Carmina Burana“ in den Handel kommen – als letzter, nachklappender Beweis dafür, dass Rattle und seine Philharmoniker 2004 mächtig am Glücksrad gedreht haben: Große Abende mit Brahms’ 2. Sinfonie, Mahlers „Fünfter“ und Beethovens „Neunter“, der überwältigende Erfolg des Education-Programms (gekrönt durch den Kinofilm „Rhythm is it!“), die umjubelte Japan- Tournee, die Ernennung zum „orchestra in residence“ der New Yorker Carnegie Hall – null problemo, nirgends?

Nun ja, es gibt einen Job in der Berliner Kulturszene, der noch schwerer zu besetzen ist als der Chefsessel des Deutschen Theaters: die Intendanz der Berliner Philharmoniker. Auf den Tag genau vor zwei Jahren endete die kurze, turbulente Ära von Franz Xaver Ohnesorg. Nach nur 15 Monaten einigte man sich darauf, dass der Kulturmanager dem Orchester bis zum Ende seines Vertrags (am 31.8. 2006!) als „Berater“ zur Verfügung stehen werde. Seitdem sind in der Philharmonie stapelweise Bewerbungsunterlagen gesichtet, erfolglos Dutzende Gespräche mit potenziellen Kandidaten geführt worden. Der Orchestervorstand ist inzwischen derart genervt, dass er Fragen zu diesem Reizthema nicht mehr beantworten mag: Man möge sich an den Vorsitzenden der Findungskommission wenden. Der heißt Thomas Flierl.

In ihrer derzeitigen sensationellen Verfassung wirken die Berliner Philharmoniker offensichtlich genauso wie schöne, kluge Frauen: bei aller Faszination Furcht einflößend. Mehr als die Rolle eines Prinzgemahls ist in der Tat nicht drin für den künftigen Intendanten. Ein Mensch wird gebraucht, der sich ums Haus kümmert, dramaturgische Zuarbeit leistet. Die Kunst machen Rattle und die Seinen schon selber. Welcher Wind hier weht, wird im Silvesterprogramm schon bei der einleitenden dritten Leonoren-Ouvertüre von Beethoven deutlich: Nicht mit romantischem Herzen, sondern mit kühlem Kopf geht man hier zur Sache; Theatereffekte sind gestrichen, stattdessen geht es um musikalische Architektur – erhaben-elegant wie der Renaissance-Palast eines aufgeklärten Fürsten.

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