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Kultur: Berge versetzen

Bewegende Bilder vom Balkan: Harald Szeemann ist durch Südosteuropa gereist – und hat dabei eine lebendige, engagierte Kunstszene entdeckt. Mit der Wiener Ausstellung „Blut und Honig“ öffnet er westlichen Besuchern den Blick für eine bislang unbekannte Welt

Was wissen wir eigentlich wirklich vom Balkan? Wer von uns kann noch das Geflecht der gegeneinander kämpfenden Volksgruppen im Jugoslawienkrieg entwirren? Wer kann, ohne zu zögern, erklären, wo Slowenien liegt, wo Slawonien und wo die Slowakei? Wer kennt die Türkei, abgesehen von ein paar Tagen Sonnenbad am Mittelmeerstrand? Die Gegend, die gleich hinter Triest anfängt und sich über Abertausende, zumeist dünn besiedelte Quadratkilometer bis jenseits des Bosporus erstreckt, ist für viele Westeuropäer ein weißer Fleck: terra incognita.

Dabei liegt Zukunft im Balkan. Das jedenfalls behauptet Harald Szeemann. Der weltweit geschätzte Kurator, der die legendäre Documenta 5 in Kassel leitete, drei Mal die Biennale von Venedig konzipierte und der morgen, am 11. Juni, 70 Jahre alt wird, Harald Szeemann also hat für Österreich eine Balkan-Ausstellung erarbeitet, die unter dem Titel „Blut&Honig“ 73 Künstler aus Albanien, Bosnien-Herzegowina, Bulgarien, dem Kosovo, Kroatien, Griechenland, Mazedonien, Rumänien, Slowenien, der Türkei und Serbien-Montenegro vorstellt.

„Blut“ und „Honig“ sind die Übersetzungsmöglichkeiten der Wortbestandteile „Bal“ und „Kan“. Jedenfalls dann, wenn man den Begriff poetisch deuten und auf die südliche Natur sowie auf ein hitziges Temperament anspielen möchte. Die Bezeichnung lässt sich prosaischer auch als „Gebirge“ übersetzen – derzeit in unseren Breitengraden die realistischere Variante, liegt die Region im Bewusstsein der allermeisten Westeuropäer doch mindestes hinter sieben Bergen.

Es gibt wohl kein Land, das für eine Annäherung an den Balkan besser geeignet ist als die einstige k.u.k.-Monarchie. Das kaiserliche Österreich brachte einst mit straffer Militärkontrolle und wuchernder Bürokratie die Segnungen des aufgeklärten Westens bis in die entferntesten Zipfel des Riesenreiches (nachzulesen beispielsweise in Joseph Roths „Radetzkymarsch“). So drückend erschien jenen, die sich ihre regionalen und nationalen Eigenheiten erhalten wollten, der kulturelle Vereinheitlichungsdruck der Hegemonialmacht, dass sich ein serbischer Nationalist den Zentraleuropäern nachhaltig ins Gedächtnis rief, als er 1914 den österreichischen Thronfolger Ferdinand in Sarajewo erschoss und damit den Ersten Weltkrieg auslöste. Um die enge Verbindung Wiens zum Balkan augenfällig zu machen, hat Harald Szeemann den Leichenfourgon des Erzherzogs denn auch mitten in die Ausstellung hinein platziert.

Es ist allerdings auch bezeichnend für den Umgang der vergangenheitsversessenen Österreicher mit bestimmten Abschnitten ihrer Geschichte, dass die „Blut & Honig“-Ausstellung nicht etwa in einem repräsentativen Museumsbau der Hauptstadt ausgerichtet wird, sondern in der Peripherie, gut 15 Kilometer Donau aufwärts, in dem verschlafenen Städtchen Klosterneuburg.

Hier hat sich der Unternehmer Karlheinz Essl, der mit Heimwerkermärkten auch im ehemaligen Ostblock reich wurde, vor einigen Jahren ein großzügiges Ausstellungshaus für die „Kunst der Gegenwart“ errichten lassen. Mit einigem Sicherheitsabstand zum zuckrigen Zentrum können die Wiener und ihre Gäste bis Ende September hier nun den ersten Schritt gen Südosten wagen.

Obwohl beim jüngsten Grand Prix Eurovision de la Chanson fast alle Balkan-Länder vertreten waren, erfuhr man dabei fast nichts über die Region – weil sich alle Songs, auch der des Siegers Türkei, so anhörten, als seien sie mit denselben Softwareprogrammen an denselben Musikcomputern zusammengebastelt worden. Umso intensiver kommt der Besucher der Ausstellung in Kontakt mit dem unbekannten Land östlich des Mittelmeers. Der erste, prägende Eindruck: Wer hier Kunst macht, kann nicht anders. Jeder, der sich hier entscheidet, den Pinsel in die Hand zu nehmen, den treibt ein unbezwingbarer Mitteilungsdrang. Was Harald Szeemann auf 3500 Quadratmetern Ausstellungsfläche versammelt hat, ist ausnahmslos engagierte Kunst. Vielleicht schießt manches naiv übers Ziel hinaus oder gerät zu simpel im Furor der Verständlichmachung. Aber alle Objekte umgibt geradezu eine Aureole der Ehrlichkeit: Hier bricht sich ein Kommunikationsbedürfnis Bahn, das den westlichen Besucher emotional bewegt wie sonst nur die Betrachtung Alter Meister.

Zum Beispiel Sanja Ivecovics Plakate, auf denen laszive Models als antifaschistische Widerstandskämpferinnen ausgegeben werden. Was ist absurder: Die Frauen, deren Namen selbst jungen Kroaten nichts mehr sagen, zu Covergirls zu stilisieren – oder in sozialistischen Zeiten eine Kleiderfabrik nach der 1942 von den Nazis ermordeten Nada Dimic zu benennen und ihren Namen in unzählige T-Shirts einzunähen?

„Bedingungslose Gastfreundschaft“ nennt der Türke Hüseyin Bahri Alptekin seine Installation. Vom Ausstellungs-Entree blickt man auf eine lange Reihe von Leuchtreklamen: Was versprechen das „Hotel Odessa“, das „Balkan Oteli“, das „Motel Yalta“, fragt sich der Künstler. „Halbtraurige, halbtrockene Exotik“? Erst ein warmes Willkommen, dann „blitzartige Feindseligkeit“?

Den Ländern des Balkan ist es extrem wichtig, sich als Teil Europas zu definieren, dazuzugehören, über die Mitgliedschaft in der Europäischen Union, aber auch kulturell. Andererseits leiden die Künstler unter den „reichen Onkels“ aus dem Westen (auch Multiplikatoren wie Harald Szeemann gehören letztlich dazu), die mit dem Scheckbuch in der Tasche ihre Ateliers durchforsten. „Ein Künstler, der kein Englisch spricht, ist kein Künstler“, nähte der Serbe Mladen Stilinovic 1992 auf ein großes Transparent. Und auch sein Landsmann Uros Djuric fühlt sich unter den neugierigen Blicken „exotischer, als ich wirklich bin“, spricht gar von „kulturellem Rassismus“.

Der Balkan will nicht länger im Abseits stehen, er will voran – nur in welche Richtung? Eine aus den Heckteilen zweier VW-Käfer zusammengeschweißte Skulptur von Antoni Maznevski macht das Dilemma auf so frappierende wie feinsinnige Weise begreifbar: Der Käfer hat den Motor hinten – was aber nützen doppelte PS-Stärken, wenn die beiden gleichstarken Maschinen unablässig gegeneinander arbeiten?

Am überraschendsten sind die Objekte mit christlichen Konnotationen. Während die Religion in Zentraleuropa in der gesellschaftlichen Bedeutungslosigkeit verdämmert (worüber auch spektakuläre Ereignisse wie der jüngste Kirchentag kaum hinwegtäuschen können), wird Religion dort, wo der Kommunismus den Glauben unterdrückte, als Alternative wahrgenommen, als eine der vielen möglichen Ausdrucksformen neuer Meinungsfreiheit.

So bekreuzigen sich bei Vladimir Nikolic fünf Freunde zu harten Techno-Beats, minutenlang. In der Videoinstallation von Cristi (sic!) Pogacean wird ein Gemälde Caravaggios lebendig, wenn der ungläubige Thomas beginnt, tatsächlich mit dem Finger in der Wunde des Heilands zu stochern.

Natürlich wirft der Rundgang durch „Blut & Honig“ mehr Fragen auf, als er Antworten geben könnte. Und natürlich bleibt die Region für den Besucher ein vielschichtiges Gebilde, multikulturell, von ethnischen Konflikten zerklüftet, mit heftigen Kämpfen zwischen Mehrheiten und Minderheiten innerhalb von Grenzen, die in der Geschichte oft genug willkürlich gezogen wurden. Doch der Anfang ist gemacht, ein erster Schritt, ein erster Blick hinter das „Gebirge“ names Balkan.

Sammlung Essl, Klosterneuburg bei Wien, bis 28. September. Katalog 29 Euro. Weitere Informationen: www.sammlung-essl.at

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