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Berlinale 2013: Harald Martenstein erlebt ein Avant-vu

Unser Autor schaut sich zu Beginn der Berlinale den Eröffnungsfilm an und plädiert für einen Eintrag ins Guinnessbuch: für den längsten Schluss.

Zu Beginn einer Berlinale muss man sich einen Terminplan machen. Dazu setze ich mich meistens ins Café. Am Nebentisch saß ein Paar. Nach ein paar Minuten merkte ich, dass gerade ein Trennungsgespräch stattfand. Ich wollte nicht zuhören. Es ließ sich aber nicht vermeiden. Ich bekam immer wieder Wortfetzen oder einzelne Sätze mit. Sie: „Dass du es ausgerechnet gemacht hast, während ich schwanger war.“ Er: „Wir sollten respektvoll und zugewandt miteinander umgehen.“ Währenddessen versuchte ich, den Film „Freier Fall“ in meinen Terminkalender zu integrieren, in dem es um einen Polizisten geht, der seine schwangere Freundin für einen Mann verlässt. Am liebsten wäre ich zum Nebentisch gegangen und hätte gesagt, Wahnsinn, ich erlebe gerade was Paranormales. Ein Avant-vu.

Er: „Ich regele das.“ Sie: „Du hast genug Zeit gehabt.“ Zwischendrin schwiegen beide minutenlang und starrten auf ihre Kaffeetassen. Ich versuchte, immer nur ganz konzentriert auf meine Blätter zu schauen. Ich dachte, das hier, diese Cafészene, ist jetzt mein erster Berlinalefilm. Zurück zum Terminplan. In „Before Midnight“ geht der jahrzehntelange Filmflirt zwischen Julie Delpy und Ethan Hawke in die dritte Runde, nach „Before Sunrise“ und „Before Sunset“. Wie wird der vierte Teil heißen? The sun ain’t gonna rise anymore?

Dann war ich im Eröffnungsfilm, „The Grandmaster“, ich sage mal: Chinapathos pur. So was muss man mögen. Während aber das Paar in dem Café tatsächlich Schluss gemacht hatte, wollte dies dem Regisseur Wong Kar Wai einfach nicht gelingen. Etwa 30 der 120 Minuten gingen für Schlussszenen drauf. Und noch ’ne Großaufnahme. Und noch ein weinendes Abschiedsgesicht. Und noch mal voll die Streicher. Als der Abspann lief und die Filmkritiker alle aufgestanden waren, brachten sie tatsächlich, ohne ersichtlichen Grund, erneut drei Minuten Schlussszene. Das kommt ins Guinnessbuch der Rekorde, ich schwöre es. Was auch interessant ist: Chinesen altern nicht. Die Handlung erstreckt sich über 20 Jahre, viel Leid, Hunderte von Kämpfen und mehrere Kriege, hinterher sieht ein Chinese immer noch so frisch und knusprig aus wie am Anfang. Wahnsinn. Ich werde in Zukunft noch öfter chinesisch essen. Oder ich prügele mich öfter.

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