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Moralist aus Wien. Seidl zeigt den Abschluss seiner „Paradies“-Trilogie.

© Berlinale

Berlinale: Der Kellermeister

Ulrich Seidl erforscht die Abgründe Österreichs und balanciert dabei auf dem Grat zwischen Doku und Fiction.

Zuletzt ist er in Österreichs Keller gestiegen, dorthin, wo die Reihenhausbesitzer oft ihre gesamte Freizeit verbringen. Nun interessiert sich Ulrich Seidl aber nicht in erster Linie für Modelleisenbahnen, Fitnessgeräte, Partytresen und Heimwerkerzubehör. Der Keller ist vor allem der Ort, an dem Menschen tun, was nicht in die gute Stube gehört. Schießen zum Beispiel, Sadomaso-Sex praktizieren oder Hitler-Bilder aufhängen. Wobei Seidl Wert darauf legt, dass seine Keller-Neugier schon vor dem grausigen Drama von Natascha Kampusch und dem Fall Josef Fritzl geweckt war.

Ulrich Seidl ist ein Kellerregisseur, einer, der die Abgründe des Menschen und seines Landes betrachtet, das abgespaltene Ich, die Tabu-Räume. „Der Keller“, sagt der 1952 im Waldviertel an der tschechischen Grenze geborene Regisseur, „ist ein Ort des Unterbewussten, der Angst, des Verbrechens“. Solche Orte sucht er mit der Kamera auf, nicht nur für seinen jüngsten Dokumentarfilm, den er zurzeit fertigstellt. Auch die Titel seiner „Paradies“-Trilogie – Glaube, Liebe, Hoffnung – sind weniger von der Bibel inspiriert als von Ödön von Horvaths Sozialrealismus. Das Triptychon, dessen letzter Teil heute auf der Berlinale Weltpremiere feiert, beleuchtet die Seelenkeller dreier ungeliebter Frauen. Sie alle verschaffen sich auf ungewöhnliche Weise Befriedigung – und werden bitter enttäuscht.

In „Paradies: Liebe“, seit Anfang Januar bei uns in den Kinos, sucht die 50-jährige Teresa im Kenia-Urlaub bei den schwarzen Beachboys Nähe und Zärtlichkeit, kann sich dem Warencharakter des Sextourismus jedoch nicht entziehen. In „Paradies: Glaube“ (Kinostart: 21. März) gibt sich Teresas erzkatholische Schwester Anna-Maria den Verzückungen der Christus-Liebe hin und missioniert mit Wandermadonna die Ärmsten der Armen in Wien. In „Hoffnung“ steht Teresas übergewichtige Tochter im Zentrum. Sie geht ins Diätcamp und verliebt sich dort unglücklich in einen älteren Arzt. Eine Lolita-Geschichte, erzählt aus der Perspektive des Mädchens.

Er habe geradewegs in die Hölle geschaut, sagte Werner Herzog nach „Tierische Liebe“ (1995), einem der frühen Dokumentarfilme Seidls. Die Hölle, das ist die Welt der Gedemütigten, der Arbeitslosen, Alten und Ausgestoßenen, derer, die keine Chance haben, ihre Würde zu bewahren. Man hat Seidls auf der Grenze zwischen Doku und Fiction angesiedelten Filmen Elendsvoyeurimus vorgeworfen. Er hält dagegen: Niemand zieht sich vor seiner Kamera nackt aus, der das nicht möchte. Seidl zeigt Würdelosigkeiten, weil er nicht gutheißt, dass die feine Gesellschaft sie ignoriert.

Also sind seine Filme, in denen Laien wie Profi-Darsteller ihre Dialoge meist selbst gestalten, von den Underdogs bevölkert, von Alkoholikern, Junkies, Sex-Süchtigen, denen, deren allerbeste Freunde ihre Hunde sind („Tierische Liebe“), von Haider-Wahlkämpfern („Zur Lage“, 2001) oder siechen Greisen in der Geriatrie, die von illegalen Ausländerinnen betreut werden („Import, Export“, 2007). Tod und Tabu, Autoaggression und Melancholie, dazu der Katholizismus in „Jesus, du weißt“, Seidls Dokumentarfilm über das Beten (2003), und im Theaterstück „Vater unser“, das er an der Berliner Volksbühne inszenierte: typisch Österreich, möchte man meinen.

Michael Haneke ist der Moralist unter Österreichs Autorenfilmern und Ulrich Seidl sein Teufelsgeselle? Unsinn: Wer Seidl zum Gespräch trifft, lernt einen scheuen, warmherzigen, humorvollen Menschen kennen. Einen Humanisten, der Thomas Bernhard liebt, skrupulös mit den Laiendarstellern umgeht, seinem Publikum jedoch keinen Schmu vormachen will. Und der keinen Hehl macht aus seiner unglücklichen Kindheit mit autoritärem Vater und strengen Jugendjahren im Internat. Duschen mussten sie mit Unterhose, erst wenn das Licht gelöscht wurde, durfte sie abgestreift werden. Seidls Oeuvre, auch eine Art Selbsttherapie.

Die Keller seiner Kindheit, die Disziplin im Internat, die Gewalt, seine frühe Rebellion – auch das ist in seinen Filmen aufbewahrt. Wobei er die Hölle nicht als Wimmelbild à la Hieronymus Bosch inszeniert, sondern als präzis stilisiertes Tableau. Schönheit und Schrecken, die Körper und das Menschenfeindliche, Gestalten vor hässlicher Mustertapete, in sterilen, abgezirkelten Interieurs: Die Galerie c/o Berlin zeigt noch bis 17. März Standfotos aus der „Paradies“-Trilogie. Momentaufnahmen, die zur Chiffre gerinnen und den Schock des Physischen aufbewahren. Immer wieder die strikt parallele Anordnung von Betten, von Strandliegen, von „aussortierten“ Kranken. Ein Reflex auf die Schlafsäle aus Seidls Internatszeit.

Keller, sagt Ulrich Seidl, können auch etwas Großartiges sein. Seit zwei Jahren besitzt er mit seiner Familie ein Haus in Drosendorf im Waldviertel. Den Keller dort zeigt er den Besuchern immer als Erstes, ein alter Felsenkeller für den Wein.

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