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Berlinale: Die Außenseiterbande

Private Dramen waren die starken Themen der 58. Berlinale. Aber mit „Tropa de Elite“ triumphiert erneut das Polit-Kino.

Gar so überraschend kam das eigentümliche Ergebnis gestern abend nicht – mit Top-Preisen für „Tropa de Elite“ und „Standard Operating Procedure“, die kaum jemand mehr so richtig auf der Rechnung hatte. Die Jury war schließlich von Anfang an das Sorgenkind dieser Berlinale: Schon ihre Zusammensetzung war erst arg knapp vor Festivalbeginn bekannt. Dann sagten – ein Skandal, den der Rummel um Martin Scorsese und die Stones gnädig verdeckte – die dänische Regisseurin Susanne Bier und die französische Schauspielerin Sandrine Bonnaire ausgerechnet am Eröffnungstag ab. Bier musste offenbar ein schlingerndes US-Projekt retten; Bonnaire zog sich aus familiären Gründen zurück, verbrachte dann aber doch zwecks Werbung für ihren eigenen Film drei ganze Tage auf dem Festival. Ja, was denn nun?

So musste die auf sechs Köpfe geschrumpfte Jury um Costa-Gavras, den 75-jährigen Altmeister des Polit-Genrefilms, allein entscheiden: mit den Schauspielerinnen Shu Qi und Diane Kruger, mit dem Sounddesigner Walter Murch, dem Szenenbildner Uli Hanisch und dem russischen Produzenten Alexander Rodniansky. Und sie tat das, was ihr gutes Recht ist, beherzt sowohl an den stärksten Filmen wie an den starken Themen des Festivals vorbei. Mit José Padilhas brasilianischem Aufreger aus den Favelas von Rio, und Errol Morris’ umstrittener Abu-Ghraib-Doku ließ sie zwei Filme triumphieren, die wie Leitartikel daherkommen – ihre fragwürdige Ästhetik interessierte dabei offenbar weniger.

Der hitzigere „Tropa de Elite“, der den äußerst brutalen Alltag einer Polizei-Sondereinheit im Antidrogenkampf schildert, wurde in Brasilien als staatsgewaltverherrlichend und gar als „faschistoid“ geschmäht. Doch dieser Vorwurf ist übertrieben. Eher stößt der Mix aus DokuFiction und Soap-Opera ab, mit der der Regisseur einen völlig verrohten Helden als Rambo-Identifikationsfigur vor allem für ein jugendliches Publikum aufbaut, jagende Handkamera und schnelle ClipSchnitte inklusive.

„Standard Operating Procedure“ wiederum, der Gewinner des Großen JuryPreises, betreibt weniger Kolportage als eine hochartifizielle Collage aus vorgefundenem und penibel nachinszeniertem Abu-Ghraib-Bildmaterial; zwar gibt es erhellende Interviews unter anderem mit der damals verurteilten Lynndie England, doch alles aufklärerische Engagement geht in der Zelebrierung aufdringlicher Zeitlupen, dröhnender Filmmusik und allerlei Bildfindungsmätzchen unter. Alles ist hier state of the digital art; die inhaltliche Ergründungsarbeit ist Regisseur Morris dagegen ziemlich gleichgültig geblieben.

Mit merkwürdig sicherer Hand also hat die Jury zwei formal sehr unterschiedliche exercices de style herausgegriffen, denen man im Umgang mit ihrem Gegenstand durchaus Obszönität vorwerfen darf. Und die Berlinale, die als das politischste unter den drei großen Festivals schon fast totdefiniert war und diesmal – nach einem Jahrgang mit einer Überfülle filmischer (Zeit-)Geschichtsstunden – einen respektablen Befreiungsversuch in Richtung bewegender privater Geschichten unternommen hatte, findet sich zumindest nach dem Diktum der Juroren in einem offenbar unentrinnbaren Raster wieder.

Immerhin mit Nebenpreisen bedacht: zwei herausragende Beiträge eines künstlerisch durchwachsenen und insgesamt nur beschränkt inspirierenden Wettbewerbs. Paul Thomas Andersons umwerfendes Drama „There Will Be Blood“ und Mike Leighs kluge Komödie „Happy-Go-Lucky“ gingen dabei, in aller Grundverschiedenheit voneinander, einen ästhetischen Weg kompromisslos zu Ende. Anderson lässt seinen egomanischen Helden Daniel Plainview (Daniel Day-Lewis’ fulminantes Spiel hatte bei der Jury keine Chance gegen den gefällig agierenden Hauptdarsteller des iranischen „Song of Sparrows“) sich zu Tode morden und siegen; am Ende seines Films ist er ein Wrack, das sich selber unbarmherzig als solches erkennt. Und die lustige Poppy aus „Happy-Go-Lucky“ erkennt erst durch einen Verzweiflungsausbruch, den sie mit ihrem unverwüstlichen Frohsinn heraufbeschwört, die Grenzen des Glücks. Schönes, trauriges Happyend: das Erwachsenwerden einer Dreißigjährigen, die den ersten ernsthaften Schmerz in ihr Leben integriert. Und Sally Hawkins darf sich, einzige wohl unumstrittene Jury-Entscheidung, über den Darstellerinnenpreis freuen.

Die großen Themen dieser Berlinale aber ließen die Jury kalt: der desolate Zustand der Familien, Trauerarbeit, das behutsame Sich-Wiederfinden in prekären privaten Verhältnissen, das manchmal freilich arg stereotyp einem beruhigenden Geschichtenausgang entgegenstrebte – als wollte das Festival partout eigene Aufklärungsimpulse mit dem glückshungrigen Erbauungsbedürfnis des Publikums in Einklang bringen. Tatsächlich betrieb es Tröstung mit System: Krankheit, Leid, Tod und Trauer überall, aber immer wieder mit seelisch aufrichtendem Ende. Zwei Ex-Partner finden zum Wohle ihres krebskranken Kindes neu zusammen („Zuo You“). Zwei Rivalinnen um einen Mann werden nach dessen Erfrierungstod zu Freundinnen („Musta Jää“). Zwei Witwer betreiben erfolgreiche Trauerarbeit („Kirschblüten“, „Caos calmo“). Zwei Schwestern lösen ein dunkles Geheimnis auf und kommen sich erstmals nahe („Il y a longtemps que je t’aime“). Vater und Sohn nähern sich erst nach dem Tod der Exfrau und Mutter einander an („Restless“). Eine Affäre findet ihre glückhafte Auflösung am Sterbebett der Frau („Elegy“). Und Kinder entkommen mit letzter Not größten Gefahren („Gardens of the Night“, „Julia“, „Feuerherz“).

Keine Frage, das innerste Leitmotiv dieser Berlinale, soweit es sich aus dem disparaten Zusammentreffen der zeigenswertesten Filme erschließt, war der Mythos Familie in seinem nicht gerade happy dekonstruierten Endzustand. Die Regisseure erzählen nicht mehr, wie zuletzt so häufig, von bloß dysfunktionalen Familien, sondern von deren durch menschliche Einwirkung oder Tod bedingter gewaltsamer Auflösung. Am übelsten wird dabei den Jüngsten mitgespielt, die doch eigentlich den Staffelstab systemischer Hoffnung auf Harmonie weitergeben sollten. Kurzerhand werden sie aus ihren familiären Zusammenhängen herausgerissen, durch Krankheit, Entführung oder Krieg.

Dieser Pessimismus, ja, dieser Fatalismus war der verborgene Brennstab des Kraftwerks Berlinale; ein Festival aber, das als Event auf sich hält, muss dessen Strahlung abzupanzern trachten – und das ist so normal wie schizophren. So setzten die Macher auf ein beeindruckendes Staraufgebot und sorgten mit eleganter Termindramaturgie für den Dauerauftrieb von Top-Namen, angefangen mit Scorseses Stones-Spektakel „Shine a Light“ und endend bei zwei Jungdiven aus Amerika. Pure Starvehikel, die früher mitunter den Wettbewerb strukturell veröden ließen, liefen (wie der MadonnaFilm) in Nebenreihen – das respektable Historien-Epos „The Other Boleyn Girl“ mit Natalie Portman und Scarlett Johansson dagegen war außer Konkurrenz im Wettbewerb perfekt platziert.

Auch in Sachen Wetter mag Berlin seinem großen Rivalen Cannes diesmal näher gekommen sein, ansonsten aber wächst die Kluft – nicht nur durch die für Cannes undenkbaren Jury-Absagen. Als Publikums-Filmkunstfestival mit vielen ausverkauften Reihen steht die Berlinale zwar unangefochten da. Und dass sie inzwischen, wie einst Hertha BSC, den eigenen Nachwuchs vom Talent Campus im Wettbewerbskader aufstellen kann, ist ein Pluspunkt mehr. Nur geht die erste Liga der Regisseure jener mittleren Generation, die den Jungen die stärksten Impulse gibt, eindeutig nach Cannes (und neuerdings wieder verstärkt nach Venedig). Derzeit werden für Cannes unter anderem gehandelt: Walter Salles, Fernando Meirelles, Kim Ki-duk, Michael Winterbottom, die Brüder Dardenne, Laurent Cantet und Wong Kar-wai. Und für den Rummel drumherum sind der in Berlin produzierte „Speed Racer“ und der neueste „Indiana Jones“ im Gespräch.Und wenn sich – neben CannesStargast Wim Wenders – noch weitere Deutsche an der Croisette hinzugesellen? Nach dem schütteren deutschen Glanz auf der Berlinale wäre das richtig fein.

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