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Wer ist die Schönste im ganzen Land? Szene aus "Casting JonBenet".

© Netflix/Michael Lethem

Berlinale Panorama: Wirklich wahre Klimperwimpern

In „Casting JonBenet“ untersucht Kitty Green die Mythen um den bis heute ungeklärten Mord am amerikanischen Kinderstar JonBenet Ramsey.

In der an Verbrechen nicht gerade armen Historie der USA gibt es wohl wenige Fälle, bei denen Crime, Mystery und Pop so nahtlos zusammenfinden wie im 20 Jahre zurückliegenden ungeklärten Mordfall der Kinder-Schönheitskönigin JonBenet Ramsey. In kürzester Zeit versickerten die Tatsachen in der Flut an Spekulationen, Verschwörungstheorien und „alternativen Fakten“.

Unter Mordverdacht gerieten auch die Mutter des Mädchens, der Vater, der neunjährige Bruder Burke, ein geständniseifriger Pädophiler und ein Weihnachtsmann-Darsteller. Durch die spektakuläre Verbindung der Bluttat mit einem der abgründigsten Bereiche der US-amerikanischen Unterhaltungsindustrie – JonBenets hüftewackelnden Gesangsauftritt mit Rauschgoldengelhaar, Klimperwimpern, rosa Rüschenkleid und weißen Cowboystiefelchen kann man sich bei Youtube ansehen – ging der Fall außerdem in die popkulturelle Mythengeschichte ein.

Die australische Filmemacherin spielt mit Faszination, Projektion und emotionalem Engagement

Die australische Filmemacherin Kitty Green nähert sich dem rätselhaften Verbrechen durch Stilisierung, Theatralität und die Zersplitterung von Figurenidentitäten. Auch wenn sie sich insbesondere das True-Crime-Format aneignet, geht es ihr ums „true“ im Namen gerade nicht. „Casting JonBenet“ beschwört vielmehr den Überschuss an Faszination, Projektion und emotionalem Engagement, der das Verbrechen und seine mediale Aufbereitung speziell in der US-amerikanischen Kultur begleitet.

Wie schon in ihrem Kurzfilm „The Face of Ukraine: Casting Oksana Baiul“ (2015) greift Green dabei auf die Form des Castings zurück und nutzt es als ein Scharnier zwischen Wirklichkeit und Spiel. Ob die von der Regisseurin eingeladenen Schauspieler und Laien aus Boulder, Colorado, tatsächlich für einen angekündigten Spielfilm vorsprechen oder die Audition die verabredete Inszenierungsform ist, bleibt dabei in der Schwebe.

Verschiedene Versionen der Wahrheit konkurrieren miteinander

Neben inszenierten Spielfilmfragmenten besteht „Casting JonBenet“ aus Reenactments, auf Archivmaterial wurde ganz verzichtet. Durch die Wiederholung bestimmter Szenen (Patsys Anruf beim Notruf 911, Johns Entdeckung der Leiche) mit unterschiedlichen Darstellern kommt es immer wieder zu grotesken Momenten – auch weil das Schauspiel mitunter recht campy gerät. Und es verrät das Verhältnis zur verkörperten Figur: Einige begeben sich besonders empathisch in ihre Rolle, andere spielen mit ironischem Unterton.

Den größten Teil des Films nehmen die Screentests ein, in denen die Darsteller ihre Version der Wahrheit offenbaren. „Wenn man sich als Schauspieler einer Figur annähert, von der man nicht weiß, ob sie schuldig oder unschuldig ist, setzt man sie automatisch in Beziehung zur eigenen Erfahrung. Mich hat vor allem interessiert, welche Erzählungen die Darsteller für sich entwerfen, damit die Ereignisse für sie Sinn machen, auch wenn sie noch so widersinnig sind“, sagt Kitty Green im Gespräch.

Die Casting-Situation als Bekenntnis-Raum

Durch das Sprechen über das Verbrechen entwickelt sich das Casting mehr und mehr zum Bekenntnisraum: Eine Frau erzählt von sexuellen Übergriffen in der Kindheit, ein Mann hat während der Dreharbeiten eine Krebsdiagnose bekommen. Zwischendurch wird die effektvoll melodramatische Grundierung von schwarzem Humor aufgebrochen: etwa wenn einer der „Burkes“ mit einer Taschenlampe auf eine Wassermelone eindrischt, um die Theorie zu widerlegen, ein Kind seines Alters könne unmöglich in der Lage gewesen sein, einen Kinderschädel zu zertrümmern.

Green versteht es zweifellos, eine verführerische Atmosphäre von Suspense, Verlust, Melancholie und leichter Exzentrik auszubreiten – und ihr audiovisueller Stil aus so üppigen wie präzise gesetzten Farbakzenten, artifiziellen Dekors und einem soghaften Score hat einen schönen Pop-Appeal. Im Unterschied zu brüchigeren Beispielen wie Robert Greenes „Kate Plays Christine“ (2015) bleibt die Hybridität des Films indes ein Stück weit Behauptung – „Casting JonBenet“ bewegt sich ganz im hermetischen Raum. Gegen Ende sieht man alle JonBenets, Patsys, Burkes, Johns, Santa Clauses etc. gleichzeitig auf der Studiobühne szenisch agieren: Doch selbst hier bricht das multiperspektivische Kaleidoskop nie in Chaos aus.

"Es geht um den Verlust des Lebens" sagt die Regisseurin

Dass sie mit ihrem postfaktischen True-Crime-Film in eine hochaktuelle Debatte stößt, ist Green bewusst, dennoch will sie ihren Film gerne anders verstanden wissen: „Für mich ist es vor allem eine emotionale Geschichte. Es geht mehr um den Verlust des Lebens und dessen Tragik als um eine akademische Studie über den Begriff der Wahrheit. Aber es war schon seltsam, wie anders sich der Film nach der Wahl Trumps plötzlich anfühlte.“

Jetzt auf Netflix verfügbar

Esther Buss

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