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Kultur: Berliner Kulturpolitik: Der Rattle-Effekt

Doch, es ging auch um Musik. Um grandiose und gescheiterte, umstrittene und bewegende Konzertabende, in denen Orchestermusiker und Publikum alles andere für zwei Stunden vergessen konnten.

Doch, es ging auch um Musik. Um grandiose und gescheiterte, umstrittene und bewegende Konzertabende, in denen Orchestermusiker und Publikum alles andere für zwei Stunden vergessen konnten. Was eigentlich selbstverständlich sein sollte und in dieser vergangenen Saison dennoch an ein Wunder grenzte. Denn nie war bisher in Berlins Konzertsälen soviel die Rede von anderem: Von Gehältern, Vetragsverhandlungen, Einsparungen - manche Dirigenten waren häufiger bei Pressekonferenzen als auf dem Podium zu sehen, Orchestermusiker gingen in die Sitzungen des Kulturausschusses mit der gleichen Regelmäßigkeit wie in ihre Proben.

Angefangen von der ominösen 3,5-Millionen-Spende für die Staatskapelle (die übrigens immer noch nicht an die Empfänger geflossen ist) bis zum Poker um das Stiftungsgesetz der Philharmoniker war die zurückliegende Spielzeit von Kulturpolitik geprägt. Und von der erstaunlichen Erkenntnis, dass die ganze Welt daran interessiert zu sein scheint, wie Berlin mit seinen Orchestern umgeht. Es gebe keinen Bereich, in dem man mit relativ geringen Mitteln derart viel Aufsehen verursachen könne wie in der Kultur, hatte Jürgen Flimm in einem Tagesspiegel-Interview konstatiert - ein Motto, das über der ganzen Saison stehen könnte.

Das gewaltige internationale Echo, das vor allem die schleppenden Verhandlungen um Staatskapelle und Philharmoniker fanden, rückt zwar kurzfristig die Berliner Politik in ein schlechtes Licht, könnte sich aber trotzdem als positiv für die Stadt erweisen. Denn letztlich bleibt beim durchschnittlich kulturinteressierten Fernsehzuschauer und Zeitungsleser in Salt Lake City oder Yokohama vermutlich vor allem eines hängen: Dass Berlin die deutsche Klassik-Metropole Nummer eins ist. Oder werden will. Eine Langzeitwirkung, die Daniel Barenboim so gut erkannt hat wie kein anderer Dirigent: Sein Aufsehen erregendes israelisches Wagner-Wagnis mit der Staatskapelle etwa dürfte ihn international weit stärker etabliert haben als seine Aufführungen an der Lindenoper. Das "Tristan"-Vorspiel in Jerusalem war nicht zuletzt ein genialer PR-Schachzug, um dem Staatsopern-Wagner-Marathon im kommenden Jahr volle Häuser zu sichern - was Barenboims persönliche, künstlerische Beweggründe nicht in Frage stellen soll.

Paradoxerweise steht die Klassikmetropole Berlin demnach trotz Intrigen und Feilschereien blendender da als je zuvor. Ein Schlaraffenland, in dem man nur die Ohren weit genug aufsperren muss. Die Voraussetzungen, dass dieses Prestige in den nächsten Jahren noch zunehmen wird, scheinen ideal: Mit Kent Nagano, Christian Thielemann und Simon Rattle hat die Stadt drei charismatische Dirigierstars der jüngeren Generation in ihren Mauern, die imstande sind, die Bedeutung der klassischen Musik auch einem großen Publikum zu vermitteln. Und dies im Detail ebenso wie im Gesamtbild der extrem unterschiedlichen Künstlerpersönlichkeiten - denn was könnte die Faszinationskraft einer Beethoven- oder Bruckner-Sinfonie besser belegen als ihre Offenheit gegenüber unterschiedlichsten Interpretationen?

Dass etwas los ist in den Konzerten, haben auch die Berliner mitbekommen: Hätte sich die enthusiastische Aufnahme der Rattle-Konzerte mit den Philharmonikern nicht allein durch ihre rein musikalische Ereigniskraft erklären lassen, hätten sie ebenso als kulturpolitische Demonstrationen wirken können. Der Rattle-Effekt zieht schon jetzt, ein Jahr vor Amtsantritt. Als demonstrative "Abstimmung mit den Füßen" können auch die Publikumsvoten zugunsten von Christian Thielemann und Kent Nagano gelten: Angesichts der noch unter Thielemanns Vorgänger Rafael Frühbeck oftmmals nur dürftig besuchten Sinfoniekonzerte des Orchesters der Deutschen Oper sind die nunmehr ausverkauften Häuser eine Sensation für sich.

Und Kent Nagano: Problemlos würde eine Abo-Reihe mit Nagano-Konzerten die Philharmonie füllen, versichert man beim Deutschen Symphonie-Orchester. Trotz ungewöhnlichster, in Ausdehnung wie Zusammenstellung gewagter Programme ist der DSO-Chef schon in seiner ersten Saison zum Publikumsfavoriten geworden.

Kein Zweifel also, die Klassik boomt in Berlin. Vom Sog-Effekt der neuen Stars könnten selbst die profitieren, die in dieser Spielzeit eher auf den hinteren Plätzen landeten: Das Berliner Sinfonieorchester, das unter seinem neuen Chef Eliahu Inbal nicht richtig Tritt fassen konnte und noch mitten in seiner personellen Umstrukturierung steckt. Das Orchester der Komischen Oper, auf dessen neuen Chef Kirill Petrenko nicht nur die Musiker warten. Und vielleicht sogar das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin (RSB), das allerdings mit der Verpflichtung Marek Janowskis auf dem besten Weg scheint, den unheilvollen Kurs der Ära Frühbeck fortzusetzen.

Die Positionierung der beiden konkurrierenden Berliner Rundfunkorchester DSO und RSB ist die letzte Frage, die kulturpolitisch noch zu lösen bleibt. Die Entscheidung über eine künstlerisch allemal wünschenswerte Bevorzugung des DSO, von der der Verbleib Naganos abhängt, muss alllein aus Dispositionsgründen noch in diesem Jahr fallen. Und anschließend ist hoffentlich nur noch von Musik die Rede.

Jörg Königsdorf

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