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Kultur: Berliner Philharmonie: Also sprach Fischer-Dieskau

Für Momente singt dieser Moses doch. Immer dann, wenn der Schmerz des Propheten über die Torheit des eigenen Volks und die Schwäche seines Bruders Aron ihn zu überwältigen scheint, dehnt Dietrich Fischer-Dieskau seine sonore Deklamation ganz eben in den Bereich des Gesangs hinüber, bringt für Momente seine immer noch wohltönende, runde Baritonstimme zum Klingen.

Für Momente singt dieser Moses doch. Immer dann, wenn der Schmerz des Propheten über die Torheit des eigenen Volks und die Schwäche seines Bruders Aron ihn zu überwältigen scheint, dehnt Dietrich Fischer-Dieskau seine sonore Deklamation ganz eben in den Bereich des Gesangs hinüber, bringt für Momente seine immer noch wohltönende, runde Baritonstimme zum Klingen. Das ist freilich kein Überschwang des Affekts, sondern die genaue Kalkulation des Künstlers. Denn der Moses in "Moses und Aron" darf nach dem Willen des Komponisten nicht singen, im Gegensatz zum törichten Volk Israel spricht er als einziger mit der Stimme der Vernunft. Zur Krönung seiner ersten Saison als Chefdirigent des Deutschen Symphonie-Orchesters hatte Kent Nagano Schönbergs große, unvollendete Oper ausgesucht, und schon von Beginn der konzertanten Aufführung in der Philharmonie an ist klar, dass der "Moses" durch den Verzicht auf die Bühne sogar noch gewinnt. Denn wohl nur im Konzert lässt sich die unbedingte Genauigkeit im Zusammenspiel von Orchester und vielstimmig aufgesplittertem Chor erzielen, die das Werk zum oratorischen Hörtheater werden lässt.

Die Gratwanderung gelingt an diesem Abend auf faszinierende Weise: Um wieviel bildhafter, visionärer klingen hier schon die züngelnden Stimmen aus dem Dornbusch, die dem Propheten seine Bestimmung enthüllen, als etwa in der szenischen Umsetzung an der Deutschen Oper. Um wieviel packender die gegenläufigen, angstdurchpulsten Stimmen aus dem Volk, die doch wie Muskelfasern zur großen Bewegung zusammenwirken. Und schließlich, um wieviel triftiger, stilbewusster legt Fischer-Dieskau den Propheten an als an der Deutschen Oper Rolf Boysen, der diese Rolle mit postromantischem Theaterpathos auf Übermenschengröße zu bringen versuchte. Fischer-Dieskaus Prophet ist wiederborstig, räsonnierend, spitzfindig im Umgang mit seinem Bruder (Donald Kaasch), ein Gefangener seiner Vernunft, dessen expressionistisch übersteigerte Phrasen als verzweifelte Verrenkungen hörbar werden, zur emotionalen Singsprache der anderen zu finden. Weder Fischer-Dieskau noch der klar die Schnittkanten nachzeichnende Nagano, noch der vom neuen Chef Simon Halsey auf bislang ungehört wortdeutliche und klangdifferenzierte Weise einstudierte Rundfunkchor erliegen jemals den Gefahren, die Musik durch romantischen Sound zu verkitschen oder den Klanggesten durch bloßes nüchternes Referieren das Leben zu entziehen. Manchmal gelten die Propheten im eigenen Land eben doch etwas.

Jörg Königsdorf

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