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Berliner Theaterpreis: Weltmeisterin im Kirschkernspucken

Große Ehre für Margit Bendokat, bodenständige Legende des Bühnen-Olymps. Ein Treffen in ihrer Stammkneipe, dem "Nö".

Zu Beginn von Nicolas Stemanns Inszenierung „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“ blödeln drei spätpubertäre Jungs eine entsprechende Brecht-Simulation an die Rampe des Deutschen Theaters. Das geht so etwa eine halbe Stunde.

Plötzlich platzt eine Kategorie in diesen Ironisierungsringelpiez hinein, die sämtliche Kategorien durchkreuzt. Ein Prinzip, das alle Prinzipien sprengt. Es heißt: Margit Bendokat. Man braucht gar nicht zu warten, bis sie mit ihrer exorbitanten Stimme losdonnert. Im Grunde reicht es schon, wenn sie einfach nur da steht – drei, vier, fünf Sekunden. „Margit Bendokat ist etwas“, beschreibt der Regisseur Dimiter Gotscheff dieses Phänomen, „das meine Körperzellen konzentriert“. In diesem Sinne besetzt sie sein Kollege Stemann buchstäblich umwerfend als Joker, der alles, was bis dato klar, wohlfeil und allzu gut sortiert war, ereignishaft über den Haufen wirft.

Fürwahr: Höchste Zeit, dass Margit Bendokat den mit 20 000 Euro dotierten Berliner Theaterpreis bekommt! Die hohe Auszeichnung der Stiftung Preußische Seehandlung, die ihr Klaus Wowereit am Sonntag beim Theatertreffen im Deutschen Theater überreichen wird, ist tatsächlich die erste ihrer Karriere. Dabei hätte es an Gelegenheiten, die 1943 in Templin geborene Ausnahmeschauspielerin zu lobpreisen, nicht gemangelt. Wenn man Margit Bendokat in ihrer Stammkneipe, dem „Nö“, trifft, sitzt einem schließlich ein halbes Jahrhundert Theatergeschichte gegenüber.

Und die beginnt sozusagen direkt um die Ecke, in Bendokats Wohnung. Zu DDR-Zeiten drehte dort ihre Jugendliebe Jürgen Gosch Experimentalfilme – mit ihm war Bendokat schon gemeinsam auf der Schauspielschule, bevor sie, mit einem Vorvertrag fürs DT in der Tasche, ihr Erstengagement in Parchim antrat. Die Filme drehte Gosch mit Michael Gwisdek, Hermann Beyer und Jürgen Holtz; selbstverständlich unter strengster Geheimhaltung.

Für den Fall, dass bei solchen Gelegenheiten plötzlich der Kühlschrank leer war, stand ein bestens funktionierender Versorgungskanal zur Verfügung. Über dem „Nö“ – damals eine schlecht ausgestattete Drogerie – wohnte die Schriftstellerin Katja Lange-Müller, mit der Bendokat eine Art Solidarpakt geschlossen hatte: Man kletterte übers Dach, stieg durchs Fenster in die Wohnung der jeweils anderen ein und war zur bedingungslosen Plünderung sämtlicher Lebensmittel ermächtigt. Wahrscheinlich ist es Heiner Müller zu danken, dass es bei dieser spektakulären Luftbrücke nie zu einem Absturz kam: Der Dramatiker und Regisseur, mit dem Bendokat in ihrer Wohnung 1980 Szenen seiner Volksbühnen-Inszenierung „Der Auftrag“ einstudierte, war derart besorgt, dass er die Kletterei verbot.

Weil die Probenräume oft gnadenlos überfrequentiert waren, erzählt Bendokat, traf man sich halt zu Hause zum Arbeiten. Dort fühlte sich Heiner Müller sowieso wohl. Schließlich hatten Margit Bendokat und ihr einstiger Lebensgefährte Jürgen Holtz hohen Anteil daran, dass er seine eigenen Texte verstand. Müller bat die beiden oft, ihm seine Arbeiten vorzulesen. Er sei dann immer äußerst zufrieden nach Hause gegangen: Jetzt wüsste er, was er geschrieben habe.

Margit Bendokat ist übrigens die Letzte, von der man das erfahren hätte. Die Müller-Geschichte gehört zu jenen Storys, die in Theaterkantinen kursieren; die Schauspielerin selbst bestätigt sie nur auf hartnäckige Nachfrage. „Det mit Müller muss man ganz vorsichtig behandeln“, blockt sie bescheiden ab; „so eng waren wir nicht.“ Gut möglich, dass Margit Bendokat nicht nur die HauptstadtSchauspielerin mit der unglaublichsten Stimme, sondern auch die mit dem am schwächsten ausgeprägten Selbstvermarktungs-Gen ist.

Dabei würde allein ihre Zeit am Deutschen Theater Bände füllen: Seit 1965 an der Ostberliner Renommee-Bühne engagiert, hat Margit Bendokat bis heute an die 70 Rollen gespielt und acht Intendanten überdauert. Leicht hatte sie es freilich nicht immer. Schließlich war die Bendokat nie Mainstream – was wahrscheinlich keiner besser weiß als die Ostkinder der siebziger und achtziger Jahre. Denn die erfrischend bösartige Prinzessin, die sie 1973 an der Seite von Gosch, Holtz, Christian Grashof und Friedo Solter im Defa-Märchenfilm „Sechse kommen durch die Welt“ spielte, revolutionierte das gesamte Monarchinnen-Genre!

Statt die Zickigkeiten zu reproduzieren, auf die Defa-Prinzessinnen so abonniert waren, hantierte die Bendokat lustvoll mit Giftschlangen, schmiedete Mordpläne gegen blutrünstige Freier und sah dabei, auf eine ebenfalls vom Durchschnitt abweichende Art, wahnsinnig gut aus. Der Regisseur Rainer Simon, erzählt Bendokat, habe seinerzeit hart um ihre Besetzung kämpfen müssen: Sie war der ostdeutschen Filmhoheit „zu schräg“. Und während Simon damals listig argumentierte, seiner Ansicht nach sei es genau diese Schrägheit, die die feudalismuskritische Märchenbotschaft zur vollsten pädagogischen Entfaltung brächte, sitzt die Bendokat jetzt im „Nö“ und sagt lapidar: „Mir war det gar nicht bewusst, dass ick schräg bin.“

Genau diese beiläufige Widerständigkeit ist es auch, die Theaterregisseure an Margit Bendokat interessiert: Wer mit ihr arbeiten will, will es absolut – und genau deswegen. Zum Beispiel Alexander Lang, der die damals 43-Jährige 1986 als „Stella“ besetzte: Bendokat spielte dieses Goethe’sche Geschöpf, das sich die meisten als ätherische Mittzwanzigerin vorstellen, als einen einzigen Beweis des Beckett-Satzes „Nichts ist komischer als das Unglück.“ Grandios! Oder Frank Castorf. „Der war ganz wichtig“, sagt Bendokat. „Durch den bin ich überhaupt so frei geworden, einfach was auszuprobieren.“

Bei Castorf biete man auf der ersten Probe spontan an, „die komischsten Sachen“, erzählt Bendokat über die Arbeit an „Paris, Paris“ nach Bulgakows Stück „Sojas Wohnung“ 1988 am DT, wo sie die Hauptrolle spielte. „Dann haben wir gesoffen, gequatscht, ganz viel gesoffen – und irgendwann kamen die Endproben.“ Castorf habe die Unsicherheit gewollt – zu Recht. Zur Premiere spiele man dann „aus lauter Angst wie ein Teufel, wie um sein Leben“, freut sich Bendokat.

Dreizehn Jahre später war es die Regisseurin Konstanze Lauterbach, die – zu Beginn von Bernd Wilms’ DT-Intendanz – eine späte, aber umso großartigere Zweitkarriere für die Schauspielerin einläutete. Dass Lauterbachs Inszenierungen bei der Kritik nicht sonderlich gut wegkamen, ist für Bendokat sekundär: Sie hatte, nach einer gewissen Durststrecke, wieder eine Regisseurin gefunden, die ihre Besonderheit nicht als störend empfand, sondern für die Bühne produktiv machte. Als unter Wilms und Reese dann auch Armin Petras, Nicolas Stemann und – natürlich – Dimiter Gotscheff ans Deutsche Theater kamen, ging es Schlag auf Schlag: Bendokat avancierte mit Ende fünfzig zu einer der bestbeschäftigten Schauspielerinnen des Ensembles. Tendenz, bis heute: steigend.

Was Wunder: Gotscheff hatte zu diesem Zeitpunkt bereits vierzig Jahre darauf gelauert, mit Bendokat arbeiten zu können. 1963, als Assistent, erlebte er sie in Benno Bessons „Tartuffe“-Inszenierung. In der stummen Rolle der Dienerin Flipote muss sie derart spektakulär Kirschkerne ausgespuckt haben, dass Gotscheff ihr Kirschen auf die Kostümärmel sticken ließ, als er sie 2003 in seiner ersten DT-Inszenierung „Tod eines Handlungsreisenden“ endlich besetzen konnte. Seither ließ der Bulgare die Bendokat nie wieder aus seinen Arbeitsfängen: Für Gotscheff-Inszenierungen gilt sie als so gut wie gesetzt. Die Rolle wird sich dann schon finden. Und wenn es – wie in den „Persern“ des Aischylos – gleich ein ganzer Chor ist: umso besser. „Was soll ich zehn, zwölf andere besetzen, wenn ich einen Reichtum wie Margit habe?“, kommentiert Gotscheff seine außergewöhnliche Besetzung lapidar. Wie die Bendokat diese komplexe persische Schlappe bei Salamis in eine klare, unaufgeregte Körperlichkeit übersetzt, ohne auch nur eine einzige Hirnzelle lahmzulegen, ist großartig. „Schauspieler sind ja oft klüger als Regisseure“, sagt Gotscheff. „Aber bei Margit ist es noch mehr als Klugheit: Sie macht die Dinge einfach.“

Jetzt, beim letzten Rotwein im „Nö“, denkt die Schauspielerin über ihre Dankesrede nach. Natürlich werden alle vorkommen: Gotscheff, Lauterbach, Petras, Stemann, der die Laudatio hält, Einar Schleef, dessen „Verratenes Volk“ sie mit zum Ereignis machte, genau wie die Bühnenarbeiter, denen Bendokat mindestens einen Sekt ausgeben wird. Und, nicht zu vergessen: Bendokats Männer. Sie habe sich, erzählt sie, als Lebenspartner immer produktive Kritiker gesucht: Ob Peter Brasch, Jürgen Holtz oder Jürgen Gosch, der ihr schon auf der Schauspielschule sagte: „Margit, lass dich nicht verbiegen! Lass dir nicht dein Eigenes wegnehmen!“ Gosch, sagt sie, „hatte solche Probleme überhaupt nicht. Der war nie auf der Suche nach seiner Persönlichkeit: Der wusste viel und hat sich nie von anderen Leuten beeinflussen lassen.“

Eine schöne Fügung, dass Bendokat Jürgen Gosch, der letztes Jahr – zusammen mit dem Bühnen- und Kostümkünstler Johannes Schütz – den Berliner Theaterpreis erhielt, jetzt nachfolgt. Bedanken wird sie sich garantiert auch bei Benno Besson, den sie in maueren Zeiten, als sie mal mit dem Gedanken spielte, das DT zu verlassen, um Rat gefragt hatte. Besson empfahl ihr damals abzuwarten: Ihre Zeit käme schon noch.

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