zum Hauptinhalt
theatertreffen

© dpa

Berliner Theatertreffen: Die neuen Leiden von Liliput

Passt, wackelt, hat keine Luft: Heute geht das Berliner Theatertreffen zu Ende. Es ist ein Jahrgang der Handwerker.

Sie sind schlau. Sie sind clever. Sie beherrschen ihr Metier. Sie sind um die 45 Jahre alt oder jung und in zentralen Positionen angekommen. Sie haben Erfolg. Sie fahren, wie das vom Fußball abgeschaute Motto des Theatertreffens trötet, „nach Berlin“. Pokalfinale!?

Warum nur hinterlassen so viele Inszenierungen einen schalen Nachgeschmack, warum wird man nicht satt? Woher kommt dieses nagende Gefühl, das am Ende dieser zwei Berliner Theaterwochen zur Gewissheit wird. Das kann doch nicht schon wieder alles gewesen sein?!

Vielleicht liegt es daran: Ja, diese Regisseure sind schlau und clever. Sie sind nur das, und nichts anderes. Sie haben Konzepte, aber keine Entwürfe. Nichts fliegt, die Füße kleben am Boden. Fast alles hält sich in einer mittleren Lage, wohl austariert. Ob Stephan Kimmigs „Maria Stuart“ vom Hamburger Thalia Theater, Thomas Ostermeiers „Die Ehe der Maria Braun“ oder Stefan Puchers „Sturm“, beide von den Münchner Kammerspielen – diese Aufführungen dauern zwei Stunden, bieten sauberes Handwerk, streng analytische Dramaturgie, und das war’s. Auch Sebastian Nüblings „Pornographie“, eine Hamburg-Hannoveraner Koproduktion mit dem Festival Theaterformen, passt ins Bild. Sie erlauben sich kaum Ausreißer, pressen die Welt in einen Wechselrahmen.

„Maria Stuart“ zum Beispiel. Die eiskalte Schiller-Variante zeigt von der Macht verbogene Menschen, die im sterilen Polit-Knast hausen; und wieder nur dies. Hysterische Königinnen, umgeben von opportunistischen Würstchen. Nie hat hier jemand eine Haltung, der Prozess der charakterlichen, moralischen Verblödung ist abgeschlossen, ehe das (kurze) Folterkammerspiel beginnt. Zwei Stunden, eine einzige Idee, und die wird glatt durchgezogen. Langweilig! Oder „Maria Braun“: viel lebendiger, witziger, überraschender, diese Geschichte einer jungen Frau im Wirtschaftswunder. Ostermeier, ungewohnt locker, baut sich seinen Fassbinder auseinander und wieder zusammen, und er ist schlau genug, auf Kino-Imitationseffekte zu verzichten.

Aber was bleibt dem Theater, wenn es nicht spielt, wenn es keine Illusion schafft, wenn es andere Medien und Künste zerlegt – und damit letzten Endes sich selbst? Es trocknet aus – wenn auch selten so gut aufgelegt wie hier. Weil Ostermeier großartige Schauspieler hat. Hans Kremer, Jean-Pierre Cornu und Brigitte Hobmeier. Und dennoch, der grassierende Hang zum Minimalismus auf der Bühne schafft Unmut, Ratlosigkeit. Die Atmosphäre implodiert. Joachim Meyerhoffs Zürcher Hamlet in Jan Bosses Regie – der Dänenprinz als Marathon-Comedian – kann so viel brüllen, rennen, kalauern, powern, pöbeln, wie er will. Des Vaters Geist ist fort. Der Geist des Theaters.

Bei Puchers „Sturm“ stellt sich die Situation offener dar. Shakespeares letztes Drama ist eine Theaterallegorie, die raffinierteste, poetischste backstage comedy (oder tragedy) aller Zeiten. Wenn Hildegard Schmahl als Zauberer Prospero ihre Rückzugspläne reflektiert, also auch ihre tief sitzende Abneigung, in die Welt der Politik und Ränke zurückzukehren, wenn sie da so steht vor den Videowänden, auf denen ein B-Picture vom Schiffsuntergang läuft, wenn man dieses making of eines multimedialen Theaterabends betrachtet, dann keimt Hoffnung auf. Dann könnte man sich vorstellen, dass diese Maschinerie, die Pucher ziemlich souverän bedient, endlich explodiert, sich selbständig macht, den Rahmen sprengt und Fantasie freisetzt. Doch das geschieht nicht. Vergebens wartet man in diesen Aufführungen auf das Überschießende, auf unkontrollierte Energie, auf etwas Irrsinniges, Verrücktes. Auf Theater.

20 Jahre ist es her, dass im Haus der Berliner Festspiele – damals noch Freie Volksbühne – der unvergessliche Ulrich Wildgruber in Peter Zadeks „Lulu“-Inszenierung beim Theatertreffen ohne Vorwarnung auf dem Rücken und kopfüber die riesige Treppen herunterrutschte. Der Atem stockte. Die Welt schien angehalten. Auf dem Rücken und kopfüber in die Tiefe: ein schönes Paradigma. Man dürstet nach solchen Momenten der Überwältigung, während das Theater offensichtlich aufgehört hat, ein besonderer Ort zu sein. Heute springen die Helden flach, mit den Füßen voraus, und mit Ansage. Armin Petras arrangiert einen Vortragsabend für vier Schauspielerinnen, die auf Balken über einem Bühnenkeller balancieren, wie über einem offenen Grab. Nichts als Phantomschmerz: Der verhackstückte Text geht zurück auf Einar Schleefs gigantomanischen „Gertrud“-Roman. Wer erinnert sich noch an Schleefs berstende Theaterschlachten, die jedes Maß überstiegen, jede Barriere sprengten?

Schleef starb im Sommer 2001, und seither schrumpft das Theater wie die in absurde Debatten vertieften Bewohner der Insel Liliput, die der „Riese“ Gulliver besucht. Dort würde Jonathan Swifts Romanheld heute auf Christoph Marthaler und seine Akteure treffen, eine schweizerische Theaterspezies, die sich so gern freiwillig klein macht und mit Lust verblödet, wie man es zum Abschluss des Theatertreffens in Marthalers „Platz Mangel“ noch einmal durchleiden musste.

Mittlerweile geht es auf der Bühne ebenso zu wie überall sonst, im Fernsehen, im Büro, auf dem Buchmarkt. Die Welt ist eingeteilt in Themen und Formate. Und Erlebnisparks, siehe „Die Erscheinungen der Martha Rubin“, jene alberne Rieseninstallation, die aus Köln herangekarrt und auf dem Schöneberger Südgelände aufgebaut wurde.

Schön säuberlich-übersichtlich, man hat den Schrecken im Griff, die Geister gebannt, den Sturm abgeblasen: So präsentierte sich das deutschsprachige Theater 2008 auf dem Gipfeltreffen in Berlin. Dafür kann die Jury wenig. Nur dass sie mit ihrer Auswahl die vorherrschenden Tendenzen unterstützt. Nach Berlin eingeladen zu werden, ist immer noch eine Ehre und unterstützt den Marktwert.

Das Theatertreffen hat ein Problem. Was, wenn die zwei absolut herausragenden Inszenierungen aus Berlin stammen, vom Deutschen Theater? Selbstverständlich musste die Jury Michael Thalheimers „Ratten“ und den „Onkel Wanja“ von Jürgen Gosch nominieren. Aber es sind und bleiben Heimspiele, Sternstunden. Auch Thalheimer bedient das Zwei-Stunden-Wechselrahmen-Format, doch mit welcher Kraft und Intensität!

„Wanja“ überragt alles: Sie spielen. Sie leiden. Sie lieben. Sie sind komisch. Sie haben Zeit. Sie hören zu. Sie sind verrückt, die Tschechow-Schauspieler Ulrich Matthes, Jens Harzer, Constanze Becker. Sie sehen aus wie von gestern und sind ihrer Zeit weit voraus.

Rüdiger Schaper

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false