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Bern ehrt Oppenheim mit einer Retro: Der Trick mit der Tasse

Enorm frisch: Bern ehrt seine Wahlbürgerin Meret Oppenheim mit einer Retrospektive

„Mit ganz enorm wenig viel“ zustande bringen, das konnte Meret Oppenheim schon als Anfangszwanzigerin. Ihre berühmte, herrlich verrückte Pelztasse katapultierte die in Berlin geborene junge Schweizerin 1936 mit einem Schlag ins Rampenlicht der Öffentlichkeit. Das mit chinesischem Gazellenfell bezogene Geschirr, gleich nach der ersten Ausstellung vom New Yorker Museum of Modern Art angekauft, avancierte zur Ikone des Surrealismus. Der Einfall zum sinnlich-weichen Gedeck aus Tierfell kam Meret Oppenheim (1913 bis 1985) im Pariser Café de Flore, als sie Dora Maar und Pablo Picasso einen mit Pelz beklebten Schmuckreif aus Metallrohr zeigte. Mit solchen Accessoires für die Modeschöpferin Elsa Schiaparelli besserte die Kunststudentin ihr Budget auf. Wie ihre Surrealisten-Freunde Hans Arp, Marcel Duchamp und Alberto Giacometti und ihr Lover Max Ernst liebte sie den spielerischen Umgang mit paradoxen Materialien und verfremdete mit nie endender Phantasie lapidar Alltägliches zu spektakulären „objets trouvés“.

Als blutjunge, nackte Schöne an der Druckerpresse auf Man Rays berühmten Akt-Fotos von 1933 wurde Meret Oppenheim später oft auf die Rolle der Surrealisten-Muse reduziert. Ihr kunstgeschichtliches Etikett blieb lebenslang das hintersinnige, verwirrende „Déjeuner en fourrure“. Auf den frühen Ruhm der schockierend zwecklosen Pelztasse folgte zunächst eine 18-jährige Schaffenskrise. Oppenheim arbeitete weiter, zerstörte jedoch das meiste oder ließ es unvollendet. Erst 1954 gelang ihr in Bern ein Neuanfang. Mit „Le couple“, einem Paar Damenschnürstiefel, die wie siamesische Zwillinge zusammengewachsen sind und damals für 75 Franken verkauft wurden, erregte sie 1956 erneut Aufsehen. Für handfeste Entrüstung sorgte 1959 ihr bizarres Berner „Frühlingsfest“, ein erstes „Happening“, bei dem ein Menü auf dem nackten Körper einer Frau serviert wurde.

Bis zu ihrem Tod 1985 in Basel hat Meret Oppenheim unermüdlich gemalt, gezeichnet, Kleidung, Möbel und Schmuck entworfen. Sie schuf Plastiken und Collagen, Kostüme, Bühnenbilder und sogar einen urigen, mit Pflanzen bewachsenen Brunnen auf dem Waisenhausplatz in Bern. 150 Bilder, Reliefs, Skulpturen und Objekte entstanden allein in den letzten zehn Jahren. Am Ende ihres Lebens schrieb sie noch eine Biographie über die deutsche Romantikerin Karoline von Günderode. Posthume Realisationen wie die rot lackierten Porzellanzehen unter dem Pastellnerz-Bandeau eines schwarzen Stöckelschuhs (2003 nach einem Entwurf von 1936 in der Hamburger Galerie ihres Freundes Thomas Levy) weckten authentisch den surrealistischen Witz früher Ideenskizzen.

Die souveräne Berner Retrospektive, benannt nach Meret Oppenheims Gedichtzeile „mit ganz wenig enorm viel“, ist ein Heimspiel: Dem Kunstmuseum ihrer dreißigjährigen Wahlheimat vermachte sie ein Drittel ihres Werk-Nachlasses zum Aussuchen. Nach Präsentationen 1987 und 2001 ergänzt das Haus jetzt seinen reichen Fundus mit berühmten Stücken aus New York, Paris, Wien und Stockholm sowie nie gezeigten Arbeiten aus Privatbesitz. Ein Ausstellungskonzept dafür zu finden, war nicht einfach. Oppenheims Werk ist kaum kontinuierlich zu fassen. Sie ließ Einfall und Zufall gleichermaßen ihren Lauf. Ihr Schaffen kam oft aus dem Unterbewusstsein, und sie hat immer wieder neu begonnen. Zudem experimentierte sie mit allen nur denkbaren Techniken und Materialien. Auch das macht eine Klassifikation schwer. Die Berner führten deshalb inhaltliche Schwerpunkte assoziativ zusammen. Oppenheims frühe Werke finden sich einträchtig neben den Folgen des Pelzfrühstücks und dem Spiel mit Masken und Metaphern aus ihrer Traum- und Hexenküche bis zu den virtuosen mythologischen Verwandlungen.

Auch die legendäre, erotisch anmutende Pelztasse ist dabei. Sie kam aus New York, verpackt in einer Kiste wie für einen Elefanten und mit striktem Filmverbot. Man trifft das fragile Objekt in der Nähe der weißen Damenpumps mit Papiermanschetten an den Stilettos („Ma gouvernante – my nurse – mein Kindermädchen“, 1936) und im Blickkontakt zum Bierseidel mit dem Pelzschwanz als Griff („Eichhörnchen“, 1969). Die Sammeltasse des Surrealismus im Kontext der Fantasiewelt ihrer Schöpferin – die Begegnung macht enorm viel Vergnügen!

Kunstmuseum Bern, bis 8. Oktober. Katalog (Hatje Cantz Verlag) 35 €.

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