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Bestseller: Das Böse hat kein Gesicht

Monströse Sicherheitsbehörden: Arne Dahl wirft in seinem spannend realistischen Wirtschaftsthriller „Gier“ einen Blick in die Zukunft Europas.

London, ein eiskalter Tag im Februar. Auf einem G20-Treffen diskutiert man Folgen der Finanzkrise. Demonstranten ziehen durch die Straßen. Plötzlich taucht bei Twitter das Gerücht auf, dass der US-Präsident sich der Menge stellen will. Als Barack Obamas Limousine am Excel Exhibition Centre in den Docklands vorfährt, schiebt sich ein asiatisch aussehender Mann unter der Absperrung hindurch und wird vom Auto einer Zivilstreife erfasst. Ein Beamter von Europol ist als erster am Unfallort. Bevor der Mann, der später in den Akten nur „der Chinese“ heißen wird, in den Armen des Polizisten stirbt, flüstert er noch ein paar unverständliche Worte. Eine Botschaft? – „Gier“ heißt der neue Roman von Arne Dahl. Es ist: ein Neuanfang.

Bekannt geworden war der schwedische Schriftsteller mit Krimis um eine „Sonderermittlungsgruppe für internationale Verbrechen“, die A-Gruppe. Die ersten fünf Bände waren ein Crossover schwedischer und amerikanischer Einflüsse: brutal inszenierte Morde, effiziente Polizeiarbeit und „human touch“ in der Tradition von Sjöwall/Wahlöö, mit einer Handvoll sympathischer Ermittler. „Tiefer Schmerz“ (2001 auf Deutsch erschienen) war der Höhepunkt, ein in die Breite erzählter, zutiefst verstörender Thriller, der quer durch Europa führte, zurück in die Zeit des Nationalsozialismus. Dann fiel die Kurve ab. Die nächsten Bestseller made in Sweden lieferte Stieg Larsson mit seiner „Millennium“-Trilogie. Die Fälle der A-Gruppe jedoch wirkten zunehmend bemüht, die letzten Bände der Reihe – „Himmelsöga“ (2007) und „Elva“ (2008) – wurden nicht einmal ins Deutsche übersetzt. „Gier“ dagegen ist ein technisch brillanter Thriller, der mit Twitter-Feeds und den grob gepixelten Fernsehbildern aus London auf Nachrichtenaktualität setzt – und gleichzeitig mit vertrauten Gesichtern aufwartet. Der Europol-Beamte ist der „hellhäutige Finnlandschwede“ Arto Söderstedt, Ex-Mitglied der A-Gruppe. „Gier“ ist ein spin off, ein Neustart der Serie mit einem Teil der Protagonisten: Söderstedts Kollege Paul Hjelm – „leicht grau geworden“ – leitet in Den Haag die sogenannte OPCOP-Gruppe, eine neue Einheit von Ermittlern aus mehreren europäischen Staaten unter dem Dach von Europol. Nun hat sie ihren ersten Fall. Der „Chinese“, der während des G20-Gipfels ums Leben kommt, ist zunächst noch eine Randfigur. Doch als in London die Leiche einer jungen Finanzanalytikerin entdeckt wird, verdichten sich die Hinweise auf ein groß angelegtes Wirtschaftsverbrechen. Die Spuren führen unter anderem zur kalabrischen Mafia, ins Baltikum – und nach China. Kompliziert? Das Thema liegt im Trend, die Turbulenzen auf den Märkten haben eine Reihe von Thrillern hervorgebracht. Allen voran Robert Harris' „Angst“, in dem es um Hedgefonds und computergestütztes Trading geht, Lee Vances Energie-und-Ölpreis-Krimi „Spur des Verrats“ und natürlich „Faule Kredite“, in dem der griechische Schriftsteller Petros Markaris einen ernüchternden Bericht aus dem Epizentrum des Eurobebens liefert. Kapitalismuskritik boomt. Der thrill der ökonomischen Krise besteht dabei vor allem in ihrem schwer zu fassenden Bedrohungspotential. Dahl treibt das souverän auf die Spitze. Das elektronische Whiteboard im Konferenzraum der OPCOP-Gruppe zeigt keine Fotos von Verdächtigen. Stattdessen füllt es sich mit abstrakten Zahlen, die auf illegale Aktivitäten verweisen: auffällig hohe Geldsummen, anonyme Kontonummern, verräterische MAC-Adressen.

Der „böse Kapitalismus“ hat kein Gesicht. „Es gibt jede Menge Verbrechen, aber keine Verbrecher.“ Dahl entwirft ein komplexes ökonomisches Bedrohungsszenario. Hand in Hand mit rücksichtslosen chinesischen Investoren bereitet die ’Ndrangheta eine Valutaspekulation gegen Lettland vor. Das Land soll aufgekauft werden, um Riga zum Umschlaghafen für Heroin und illegale Waffen zu machen, alles abgesichert durch Transaktionen auf den internationalen Finanzmärkten.

„Gier“ ist ein pessimistischer Pageturner: ein Blick auf eine Welt, in der „kleinere Staaten und multinationale Unternehmen dabei sind, sich wie Mafiafamilien zu strukturieren“. Doch Dahl beschwört nicht nur die Vision einer grenzübergreifenden Wirtschaftskriminalität. Er zeichnet auch ein bedrohliches Bild von der Polizeiarbeit im 21. Jahrhundert: „Um wenigstens eine geringe Chance gegen die organisierte Kriminalität zu haben, muss die Polizei ebenfalls international aufgestellt sein“, referiert Paul Hjelm zu Beginn im Tonfall eines engagierten Sicherheitspolitikers. Es ist der erste Hinweis darauf, dass Dahls OPCOP-Gruppe mehr ist als eine filmreif gecastete Einheit europäischer Superpolizisten, die mit der Dienstwaffe im Handgepäck lässig nach Riga, Rom oder London jetten. „Gier“ ist streckenweise erschreckend realistisch: Europol ist auf dem Weg, zu einer Art europäischem FBI zu werden.

Das steht in den Randspalten der Zeitungen, in abseitigen Internet-Foren, zwischen den Zeilen der offiziellen Statements. Die EU-Kommission hat in den letzten Jahren den Tätigkeitsbereich der europäischen Polizeibehörde unauffällig ausgeweitet – auch mit Blick auf länderübergreifende Ermittlungsteams und „operative“ Kompetenz. Vor allem aber ist der Informationsaustausch zwischen europäischen und nationalen Datenbanken unter dem Stichwort „Stockholmer Programm“ erweitert worden. Kritiker sprechen von einer „Datenkrake“, einer „europäischen Geheimpolizei“ – das schimmert auch unter den perfekt auf Spannung polierten Oberflächen von „Gier“ durch.

Die Szenen in Dahls Roman, in denen die OPCOP-Ermittler an ihren Computern schnell mal ein paar Profile von EU-Bürgern zusammenklicken, sind keine Referenz an amerikanische High-Tech-Thriller. Das hier ist mehr als Unterhaltungsliteratur: Arne Dahl wirft einen Blick in die Zukunft Europas – und führt uns eine monströse Sicherheitsbehörde vor, die keine Grenzen mehr kennt.

Arne Dahl: Gier. Roman. Aus dem Schwedischen von Antje Rieck-Blankenburg. Piper Verlag, München 2012. 512 Seiten, 16,99 €.

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