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Kultur: Bibelstunde

Thomas Lackmann auf den Spuren eines abgeblasenen Weltuntergangs Das komischste Buch des Alten Testaments handelt davon, wie man einer Zivilisation die Massenvernichtung androht und diese Drohung ohne Gesichtsverlust zurückzieht. Der Mann, dem die unangenehme Aufgabe der grausamen Ankündigung erteilt wird, hat jedoch wenig Lust dazu.

Thomas Lackmann auf den Spuren eines abgeblasenen Weltuntergangs

Das komischste Buch des Alten Testaments handelt davon, wie man einer Zivilisation die Massenvernichtung androht und diese Drohung ohne Gesichtsverlust zurückzieht. Der Mann, dem die unangenehme Aufgabe der grausamen Ankündigung erteilt wird, hat jedoch wenig Lust dazu. Er kauft sich eine Fluchtpassage ans andere Ende der Welt, besteigt im Hafen von Jaffa das nächste Schnellboot und gerät – Szenenwechsel – in einen Sturm. Die panischen Matrosen werfen in Todesfurcht das Los, um herauszufinden, wessen Missetat diesen Orkan verursacht hat, und das Los fällt auf den Flüchtigen. „Werft mich doch über Bord, dann wird das Toben nachlassen!“ ruft der griesgrämige Vernichtungsprophet; die Seeleute überantworten ihn dem Meer und ein großer Fisch verschluckt ihn, Wunder Nr.1 – im Auftrag seines höchsten Auftraggebers.

Denn Jona, der Protagonist dieses ironischtheatralischen Propheten-Cartoons, soll unbedingt seine dramatische Mission ausführen! Drei Tage und Nächte bleibt er im Bauch der Angst, dann spuckt ihn der Fisch an Land, und nun tut der Drückeberger doch seine Pflicht. Er marschiert – Szenenwechsel – zur Bußpredigt hinein in das drei Tagereisen große Ninive: „Noch 40 Tage, und Ninive wird zerstört werden!“ Und, Wunder Nr.2: Die Bürger der Lastermetropole, ihr König eingeschlossen, gehen in sich. Sie fasten mitsamt ihren Tieren, lassen ab von allen Untaten, flehen zum höchsten Weltenrichter um Erbarmen, und dieser – Wunder Nr. 3 – lenkt ein. Sein Prophet jedoch hat sich gerade am Ortsrand von Ninive eine Hütte gebaut, um von dort aus zu beobachten, was Schlimmes geschieht. „Sollte ich nicht Mitleid haben mit der großen Stadt, in der mehr als 120000 Menschen leben, die nicht zwischen rechts und links unterscheiden können, dazu noch viele Tiere?“ fragt Gott im Tonfall eines gütigen Therapeuten seinen schwierigen Propheten. Als dieser aber erkennt, dass der Auftraggeber die angesagte Vernichtung gar nicht vollstrecken will, bekommt er einen Wutanfall, einen Sonnenstich, eine tiefe Depression...

Heute sind vom großmächtigen alten Ninive, der Assyrer-Kapitale im Nord-Irak, nur noch Palastruinen vor Ort und ein paar Reliefs im Britischen Museum zu sehen, aber mit Jona hat dieses Verschwinden nichts zu tun. Denn das Buch Jona, dieses skurrile Wundermärchen, ein Unikum seiner Art in der ganzen Bibel, ist erst 200 Jahre nach Ninives Untergang enstanden: beruhigen uns die Exegeten und Archäologen von heute. Die Gelehrten erklären uns auch, dass Jona „Taube“ und dass Ninive „Wohnung“ bedeutet; sie erläutern, warum die unsympathische Hauptperson des Buches, der partikularistisch gesonnene Prophet, in solch schroffen Gegensatz zu seinem Chef gerät, dem universalistisch ausgerichteten Gott Israels. Sie finden heraus, dass Jona aus einem Dorf im Norden Israels stammte, weshalb der nächste Schnellboothafen zur Flucht ans andere Weltende für ihn in Jaffa lag, der arabischen Nachbarstadt des heutigen Tel Aviv.

Szenenwechsel – nach Jaffa: wo uns der Fremdenführer von heute den authentischen Schauplatz der Jona-Geschichte zeigt. Dort am Strand die Dreispitz-Figur mit dem Schild „Historical Site Free Entrance“ stelle allerdings nicht Jona dar, sagt der Guide. Sondern Napoleon, der sei lange nach dem fahnenflüchtigen Prediger ebenfalls in Jaffa vorbeigekommen und habe die komplette osmanische Stadt-Besatzung zur Strafe für ihren Widerstand ans Meer führen und exekutieren lassen, 4000 Mann; eine Massaker-Lektion zur demokratischen Einführung von liberte, egalite, fraternite, die der Orient bis heute nicht richtig verstanden hat. Seit 5000 Jahren leben Menschen in Jaffa, eine der ältesten, durchgehend bewohnten Städte der Erde. Warum freilich damals, zur Jona-Zeit, jene Leute, denen Ninives Bosheit schnuppe war, und jene, die sich gern in krisenfreie Zonen absetzen, und jene, die den Untergang der Wohnung des Bösen von der sicheren Fernbedienungs-Peripherie aus live erleben wollen, miteinander identisch waren (weshalb sie alle in der Person des mürrischen Pazifisten verkörpert wurden): Das können uns weder Guides noch Exegeten erklären. Vor 2400 Jahren war die friedensbewegte Menschheit wohl gesinnungsmäßig nicht so ausdifferenziert wie heute, außerdem ist das Buch Jona ja nur ein Wundermärchen.

Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie.

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