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Kultur: Bittere Wahrheit, süße Lügen

Man kann sie überall in den Großstädten dieser Welt antreffen, in Istanbul etwa auf dem Platz vor der großen Moschee in Eminönü oder am Galata-Turm: Kinder, die Postkarten, Souvenirkitsch und Taubenfutter verkaufen, die betteln oder sich mit kleinen Diebereien ihr Überleben sichern. Zilo, die eigentlich anders heißt, ist eine von ihnen.

Man kann sie überall in den Großstädten dieser Welt antreffen, in Istanbul etwa auf dem Platz vor der großen Moschee in Eminönü oder am Galata-Turm: Kinder, die Postkarten, Souvenirkitsch und Taubenfutter verkaufen, die betteln oder sich mit kleinen Diebereien ihr Überleben sichern. Zilo, die eigentlich anders heißt, ist eine von ihnen. Sie ist zehn oder elf oder zwölf Jahre alt. Ihre Familie kommt vielleicht aus dem Dorf Siirt, vielleicht aus Bitlis. So genau weiß sie es selbst nicht, aber solche Nebensächlichkeiten lassen sie kalt. Lieber erzählt sie dem Mann, der sie in dem Istanbuler Heim für Straßenkinder aufgesucht hat, von ihrer Stiefmutter, vor deren Schlägen sich sogar der Vater fürchtet. Oder von dem frierenden Mädchen in der Moschee, dem sie manchmal etwas Geld gibt, von den vielen großen und kleinen Gaunern in der Stadt, und von ihrem Lieblingsschlafplatz unter dem Eisenbahnwaggon. Manchmal weiht sie den Fragenden in ihre Zukunftsträume ein: Ein Häuschen mit einem Sofa und einer Steppdecke würde ihr gefallen, oder ein nestgroßer Unterschlupf in dem hohlen Baum, dort wo der lahme Storch wohnt.

Wenn Zilo ins Erzählen kommt, glänzen ihre Augen, und die Grenze zwischen Erlebtem und Erfundenem verschwimmt. Denn schließlich, weiß Zilo, ist die ganze Welt voller Lügen, und wer ihr alles wortwörtlich abnimmt, hat selbst Schuld.

Zuhören und Nachfragen

Vor mehr als 20 Jahren traf sich der bekannte anatolische Schriftsteller Yasar Kemal mit Istanbuler Straßenkindern, hat sie erzählen lassen, ihnen zugehört, und mal offensiv, mal behutsam nachgehakt. 1978 erschienen die literarisch aufbereiteten Gespräche auf Türkisch, eines davon wurde nun ins Deutsche übersetzt - und hat nichts an Aktualität verloren.

Yasar Kemal, der durch den Roman "Mehmet mein Falke", in dem ein Bauernjunge zum Volksheld aufsteigt, berühmt geworden ist, hat mit "Gut geflunkert, Zilo!" eine authentische Erzählung über den Alltag auf der Straße in Istanbul geschrieben. Durch das Spiel mit der Wahrheit entsteht Wahrhaftigkeit, eindringlicher und überzeugender als manche wohlmeinende Reportage. Hinter Zilos Selbstromantisierung zeichnet sich die wenig romantische Alltagsrealität ab, die Tausende von Straßenkindern teilen: Hunger und Kälte, Gewalt und sexueller Missbrauch. Es entspannt sich ein dialogisches Wechselspiel zwischen Erzählerin und Zuhörer, der längst nicht alles weitergibt, was Zilo ihm anvertraut.

Dass Kemal Zilos Leben nicht als plakatives Lehrstück inszeniert oder mit anklägerischem Pathos übermittelt, dass er dem Mädchen seine Fantasie und seine Träume und damit letztlich seine Würde lässt, sind die Stärken des Buches. Zugleich birgt der Text gerade durch die scheinbare Leichtigkeit die Gefahr des Missverstehens, verlangt nach Sensibilität für Zwischenklänge und Unausgesprochenes. Schade, dass die Verpackung des Buches seinem Inhalt so wenig gerecht wird. Zilos oft märchenhaftes Fabulieren ist keine simple Flunkerei, sondern letztlich eine Überlebensstrategie, die der forciert augenzwinkernde Titel verniedlicht. Und obwohl man Kinder weder unterfordern noch unterschätzen sollte, fragt man sich bei der Altersempfehlung des Verlages, ob der stark fragmentarische Charakter des Buches Zehnjährige nicht eher frustrieren als fesseln wird, und ob die Angabe nicht diejenigen Älteren von der Lektüre abhält, die mit einem solchen Text umzugehen wissen. Schlimmstenfalls kann so ein herausragendes Werk zum Ladenhüter werden.

Susanne Hilf

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