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Kultur: Bleibt spirituell!

Beuys in Japan: wiederentdeckte Filmdokumente im Hamburger Bahnhof

Wie sollte er doch recht behalten. 1984 war Joseph Beuys, bereits gesundheitlich geschwächt, nach Tokio gereist, der Künstler eröffnete dort eine Ausstellung im Seibu Museum. Während seines achttägigen Aufenthalts wurde er auf Schritt und Tritt von einem japanischen Kamerateam begleitet. So sind gut 50 Stunden Filmmaterial entstanden, das viele Jahre als verschollen galt. Kürzlich ist es wieder aufgetaucht; in der Ausstellung „8 Tage in Japan und die Utopie Eurasia“ im Hamburger Bahnhof in Berlin wird es nun erstmals in Europa gezeigt.

Die Kamera hielt fest, wie Beuys, Verfechter der „Sozialen Plastik“, Baumpflanzer und Anführer der grünen Bewegung, die Japaner mitten in ihrem größten Wirtschaftsboom davor warnt, ihre Spiritualität für den Materialismus aufzugeben. Er kritisiert die grausamen Walfänge und macht auf die ökologischen Folgen von mangelndem Umweltbewusstsein aufmerksam. Nach dem Schrecken der Naturkatastrophen, nach dem Tsunami und dem atomaren GAU im März dieses Jahres schmecken seine visionären Sätze besonders bitter.

Mizuki Takahashi, Kuratorin des Art Tower in Mito, stöberte die Originalbänder auf und zeigte sie 2009 in ihrem Haus. Mito liegt 120 Kilometer von Fukushima entfernt. Die Erde bebte auch dort.

In Berlin wird ein Großteil des Filmmaterials nun an mehreren chronologisch sortierten Stationen präsentiert; im Mittelpunkt stehen Beuys Vortrag „Kunst und Gesellschaft“ und die Aktion „Coyote III“ zusammen mit Nam June Paik. Dem hatte Beuys bei der Ankunft in der Flughafenhalle noch rasch und väterlich Schmutz von der Wange entfernt – auch solche beiläufigen, liebenswerten Szenen sind zu sehen. Es folgen der Aufbau der Ausstellung, Pressekonferenzen, Eröffnung, touristische Besichtigungen. „Private Gespräche halte ich für Unfug“ steht als Zitat an einer Wand geschrieben. Beuys war ein nimmermüder Theoretiker, immer und immer wieder stellt er sich den Fragen seiner interessierten Zuhörer. Wer sich die Zeit nimmt, vor dem entfaltet sich noch einmal das ganze Beuyssche Weltbild, seine Idee vom denkenden Menschen als schöpferischem Wesen.

„Bei uns wird ja von Wiedergeburt gesprochen. Glauben Sie auch daran?“, fragt ihn der Anthropologe Shinichi Nakazawa. „Ich glaube an gar nichts“, antwortet Beuys, „sondern versuche, etwas zu erfahren. Der Glaube ist heute kein Erkenntnisorgan mehr.“ Der brillante Redner Beuys ist in jedem Moment präsent. Während der Vorträge zieht er an seiner Zigarette, fast ein Sinnbild dafür, wie er die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer an sich zu ziehen vermag. Und sie verehren ihn wie einen Popstar, wollen Hände schütteln und Autogramme auf T-Shirts. Es ist die erste und letzte Reise von Beuys nach Asien.

Eigentlich ist er zu dem Zeitpunkt längst dem gängigen Kunstbetrieb entwachsen, geht mit seinen Aktionen auf die Straße und hat für Museumsmauern nichts übrig. Doch als das japanische Museum zusagte, sein 7000-EichenProjekt in Kassel mitzufinanzieren, willigte er ein.

Obwohl er bis dahin nie dort war, ist Beuys ein bekennender Fan asiatischer Kultur. Deshalb präsentiert die Ausstellung zu Beginn Beuys’ Traum von Eurasia, den er seit den sechziger Jahren hegte. Einen internationalen Verbund zwischen Europa und Asien wünschte er sich – und das in Zeiten des Kalten Krieges, in denen die Landmasse Eurasien durch den Eisernen Vorhang geteilt war. Es ging ihm aber um mehr: um die geistige Vereinigung von westlicher und östlicher Kultur, von rationalen Prinzipien und einer spirituell erfüllten Lebensweise. Beuys sah die Welt durch den wachsenden Materialismus gefährdet. Die Utopie war für ihn ein Rezept gegen die drohende Apokalypse: 1963 gründete er die Partei „Eurasia“, die freilich weniger eine politische als eine künstlerische Idee darstellte. Immer wieder operierte er in seinen Aktionen mit dem Begriff. Etwa in dem im Hamburger Bahnhof gezeigten Film über seine Performance „Eurasienstab“, in der er mit einem gebogenen Kupferstab hantierte, der geistige Energien ableiten sollte.

Die Schau ist im ersten Stock des Westflügels untergebracht. Wer wieder zum Ausgang strebt, passiert die Räume der ständigen Ausstellung im Erdgeschoss, auch das Feld mit Beuys’ Basaltblöcken mit dem Titel „Das Ende des 20. Jahrhunderts“. Die Arbeit ist bereits Bestandteil der Kunstgeschichte. Aber das Ende eines Kapitels? Beuys ist aktueller denn je, ein Künstler des 21. Jahrhunderts.

Hamburger Bahnhof, Invalidenstraße 50-51, bis 1. Januar 2012, Di-Fr 10-18 Uhr, Sa 11-20 Uhr, So 11-18 Uhr

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