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Kultur: Blick hinter die Kinderstirn

"Der Mythos ist ein Aggregat, eine Maschine, an die immer neue und andere Maschinen angeschlossen werden können.Er transportiert die Energie, bis die wachsende Beschleunigung den Kulturkreis sprengt.

"Der Mythos ist ein Aggregat, eine Maschine, an die immer neue und andere Maschinen angeschlossen werden können.Er transportiert die Energie, bis die wachsende Beschleunigung den Kulturkreis sprengt." Dieses Notat entstammt Heiner Müllers Entwurf für eine Rede bei den Shakespeare-Tagen in Weimar aus dem Jahr 1988.Müller wurde seit seinem Tod vor drei Jahren selbst zum Mythos, zu einer Art dialektischem Popstar, dem Sinnfindungsmaschinen angeschlossen wurden und werden.Der Lyriker Durs Grünbein nennt ihn "die merkwürdigste Dichtererscheinung nach dem Zusammenbruch aller romantischen Kunst in diesen Breiten", was einigen Raum zur Interpretation läßt.György Konrád erzählte in seiner Rede zur Eröffnung der Ausstellung von "Fundsachen Heiner Müller" in der Akademie der Künste, wie er mit Schriftstellerkollegen den Lesemarathon nach Müllers Tod im Theater erlebt hatte.Die ganze alternative Jugend Berlins sei damals in der Volksbühne und im Berliner Ensemble zusammengekommen, "eine Wortbrücke über den frischen Tod" zu schlagen: "Ich ahnte allmählich, daß Heiner Müller im vereinten und realistischen Berlin die sarkastische Revolutionsromantik ist.Zumindest ist ihm diese Rolle von einer uns immer rätselhaft bleibenden Dramaturgie zugewiesen worden."

Damit aus der reinen Mythenbildung Interpretation werden kann, sind zugängliche Fakten erforderlich.Im Frühjahr erschien mit den Gedichten der erste Band der Heiner-Müller-Gesamtausgabe, die 120 unveröffentlichte Werke aus dem Archiv enthält.Das unerschöpfliche Archiv: Es zählt ungefähr 130 000 Blätter, was siebzig laufenden Metern entspricht.20 000 Blätter stammen aus dem Nachlaß Inge Müllers.Die Ausstellung "Wer haust in meiner Stirn" gewährt rechtzeitig zu Heiner Müllers siebzigstem Geburtstag am 9.Januar Einblick in 25 Vitrinen.Sie gliedern sich nach den Bereichen seiner Arbeit: von dem handschriftlich ergänzten Typoskript "Die Korrektur" des Ehe- und Kollegenpaars aus dem Jahr 1958, über frühe Rezensionen zu Grass oder Neruda, über die Opernregie ("Ein Regisseur, der, ähnlich wie Brecht, seinen Texten einen theatralischen Leib von phantasievoller Phantastik zu geben vermochte", schreibt Friedrich Dieckmann in einem Begleitbuch zur Ausstellung), Müllers Beschäftigung mit Shakespeare, der Germania-Komplex, die umfangreiche Korrespondenz, seine Zeit als Akademiepräsident (Ost) und in der Leitung des Berliner Ensembles von 1991 bis schließlich 1995.Entscheidende kulturpolitische Auseinandersetzungen um die Aufführungen der Stücke "Die Umsiedlerin" oder "Der Lohndrücker", die für ihren Autor zu biographischen Wegmarken wurden, sind ausführlich dargelegt.

Die Filmdokumentation "Reimund" (Müllers erster Vorname) konnte bedauerlicherweise nicht gezeigt werden.Keine Fernsehanstalt hatte sich bereit gefunden, das Material des Regisseurs Wolfgang Müller, Heiners jüngerem Bruder, sendefertig zu machen - ein Ärgernis.

Eine Dokumentation der Vita in Bildern und Texten von Jan-Christoph Hauschild ergänzt die Papiere im Schneewittchensarg.Ihr ist zu entnehmen, daß Müller nach dem Abitur 1948 in Frankenberg ganze vier Wochen in der Produktion tätig war, Drehbänke entrostend.Dann wurde er Hilfsbibliothekar und Literatur-Obmann des SED-Bezirks.Kopfzerbrechen bereitet dem Müller-Archivar Volker Kahl der Umstand, daß ein großer Teil des Nachlasses sich in Form von Zetteln, bekritzelten Servietten oder Zigarettenschachteln atomisiert hat.Zusätzliche Schwierigkeiten, so Kahl, machten Müllers Unlust, seine Arbeitsunterlagen zu ordnen, sowie die langen Zeiträume der Werkentstehung.Manche Entwürfe habe er ein Jahrzehnt lang immer wieder aufgenommen und überarbeitet.

"Im ächten Manne ist ein Kind versteckt, das will sterben" lautete der Titel von B.K.Tragelehns Anmerkungen zu Heiner Müller.Damit zitierte er eine Lieblingszeile des Freundes und skizzierte zugleich treffend und verständig den Künstler als Kind und Ausübenden der Brechtschen Lebenskunst: "Privileg des Künstlers ist, daß er Kind bleibt, dem Schrecken der Arbeitsteilung nicht unterworfen."

In der DDR sei es darauf angekommen, die Gegenwelt des Spiels auf jede Weise zu verteidigen, um den offiziellen Anspruch des normalen, erhebenden, positiven, erwachsenen Künstlers zu unterlaufen.Heiner Müller, ein Kind im Kampf gegen die Erziehungsdiktatur der DDR.

KATRIN HILLGRUBER

Bis 14.Februar.Di bis So 10-19 Uhr, Mo 13-19 Uhr

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