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Kultur: Blinder Wahn

Dostojewskij als Trash-Theater: Nicolas Stemanns „Brüder Karamasow“ in Wien

Am Ende aller Ideologien öffnen sich die Grenzen zum Reich des Wahns. Dem geblendeten Ödipus gleich ertrinkt Iwan Karamasow zwischen Realität und Fantasie: „Alle Schranken fallen. Alles ist erlaubt, alles ist egal.“ Das Schuldgefühl, bleischwer, reißt ihn in die Tiefe des Selbstverlusts: „Wer wünscht sich nicht den Tod des Vaters“, stammelt es aus Joachim Meyerhoffs Iwan, der – halb bei sich, halb außer sich – mit Verzweiflung bezahlt, was er zu denken wagte: „Ohne Gott ist der Mensch frei.“ Die Revolte der Vernunft endet im Wahnsinn.

Nun „Mit Iwan Karamasow“, so postulierte einst Albert Camus, „beginnt in Wahrheit die Geschichte des zeitgenössischen Nihilismus“. In Fjodor M. Dostojewskijs Roman „Die Brüder Karamasow“ verschränken sich der Mord am göttlichen Übervater und jener am biologischen Tyrannen zu einem unlösbaren Konflikt, an dessen Ende die Hoffnung auf Erlösung übrig bleibt.

Kann man einen 1300-Seiten-Roman überhaupt auf die Bühne bringen? Bei seinen Berliner Dostojewski-Annäherungen ließ Volksbühnen-Chef Frank Castorf nicht zufällig die Finger davon. Nun hat Regisseur Nicolas Stemann es gewagt und ihn dramatisiert, für eine dreieinhalbstündige Fassung am Wiener Akademietheater.

Der Roman von 1880, den Dostojewskij zwei Monate vor seinem Tod vollendet hat, ist ein modernes Familienepos, ein Krimi und gleichzeitig des Dichters poetisches Bekenntnis seines eigenen Vaterkonflikts. Die Epilepsie, die Dostojewskij ein Leben lang quälte und von Sigmund Freud 1927 als neurotisches Symptom seines Schuldgefühls wegen des inneren Tötungswunschs diagnostiziert wurde, plagt auch den wahren Vatermörder seines Romans, den illegitimen Sohn Smerdjakow. Als Täter bleibt Smerdjakow jedoch unentdeckt. Dostojewskij schuf darüber hinaus ein polyphones Gemälde der russischen Gesellschaft, voll glänzender psychologischer Analysen und durchsetzt mit langen diskursiven, philosophischen Passagen, die sich um Vatermord, Justizirrtum, die Familie im Umbruch, die orthodoxe Kirche, um Katholizismus und Sozialismus und um den Begriff der Freiheit drehen.

Mit seinen Hauptfiguren schwankt Dostojewski zwischen utopischem Messianismus und humanistischer Rebellion und setzt an das Ende doch „seinen Helden“, den jungen Novizen Aljoscha Karamasow, der die Unsterblichkeit verkündet wie einen Einspruch gegen die heraufziehende Moderne.

Angesichts des gegenwärtigen Booms der tief religiösen und spirituellen Literatur und der viel beschworenen Orientierungslosigkeit einer Gesellschaft am Ende eines mystisch Glück verheißenden Turbokapitalismus erscheint die Auseinandersetzung mit Dostojewskijs Diskursroman nahe liegend. Ebenso aber auch das Scheitern bei dem Versuch, eine theatralische Umsetzung für das opulente Werk und seine philosophischen Ausschweifungen zu finden.

In Wien jedenfalls geht Stemann bei der Wahl seiner Erzählweisen planlos vor und lässt das vorrangig junge Ensemble durch die Geschichte taumeln, als könne man Dostojewskijs Gedankengebäude durch einen simplen Plot ersetzen. Ohne Gefühl für Rhythmus (trotz hochkarätiger Brass-Band) und ohne das widersprüchliche Innenleben der Figuren zu zeigen, wanken nur deren schwache, karikierend typisierte Schatten auf der kargen Einheitsbühne von Katrin Nottrodt dahin. Auf ein improvisiertes Soap-Szenario mit Plüschsofa und Kulissenteilen aus dem Schnürboden folgen nebelgetränkter Klostermystizismus mit singenden Chorknaben und eine nüchterne Dichterlesung vor dem eisernen Bühnenvorhang im Akademietheater.

In Stemanns bemüht aufklärerischem Schnelldurchlauf zwischen forcierter Hysterie, bemühter Komik und ödem Rampenspiel fehlt der wahre Kern des Familienkonflikts: Denn Martin Schwabs Karamasow, Dostojewskis rücksichtslos verkommener Vater-Lüstling, ist kaum mehr als ein unausgeglichener, in die Jahre gekommener Rockbarde im Silberpelz, der in ekstatisch zuckendem Scheinwerferlicht zu den Klängen von „Born To Be Wild“ die Luftgitarre schwingt.

Philipp Hochmair gibt den vermeintlichen Vatermörder Dimitri als glatten Yuppi, bar verführerischer Leidenschaft, die leider auch Myriam Schröders Gruschenka fehlt – da nützt auch kein Gold-Bikini (Kostüme: Aino Laberenz). Dem Eifersuchtsdrama zwischen Vater und Sohn um das „infernale Weib“ mangelt es damit an Glaubwürdigkeit. Allein die antagonistischen Brüder Aljoscha und Iwan sind klarer konturiert. Sebastian Rudolphs schüchterner Aljoscha rettet sich mit blutender Nase und einer im Wasserkrug eingeklemmten Hand vor den wild gewordenen Frauen: der Hysterikerin Katerina Iwanowna (Adina Vetter als schwaches Sophie-Rois-Plagiat) und der wild um sich beißenden Lisa (Sachiko Hara).

Aljoschas verzweifeltes Ringen um den Glauben und die Gedankenschwere Iwans, dem Joachim Meyerhoff in seiner Dichterlesung vom Großinquisitor Emphase verleiht, schenken einem langatmigen Abend zumindest Augenblicke von Substanz.

Sein „Alles-ist-erlaubt“ führt Iwan in den Wahnsinn. Eine Devise, der auch die Regie Nicolas Stemanns folgt, ohne in der Trash-Tragödie Haltung zu gewinnen. Dabei verspielt Stemann orientierungslos einen Themenkomplex, der aktueller nicht sein könnte. Eine hohle Antwort auf die depressive Spaßgesellschaft von heute.

Akademietheater, Wien. Weitere Aufführungen am 5., 7. und 25. Januar. Informationen: www.burgtheater.at

Christina Kaindl-Hönig

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