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Kultur: Blütenpracht und Todesstrafe

Die Frankfurter Fotoausstellung „Humanism in China“ wagt den Blick von innen

Ihr Gesicht rahmt ein Meer aus Kirschblüten. Doch die alte Dame blickt noch etwas unsicher in die Kamera, steht sie doch ein wenig wackelig auf der pyramidalen Abdeckung eines Mülleimers; zwei jüngere Frauen halten die Porträtierte an den Beinen fest und lachen vor Vergnügen. Die Aufnahme, die der Fotograf Wu Zhengzhong 1990 in Quingdao gemacht hat, bringt den Widerspruch zwischen Realität und Inszenierung auf den Punkt. Die alte Dame ist schließlich nicht auf den Abfalleimer gestiegen, um sich in dieser lächerlichen Position ablichten zu lassen. Sie wollte ihr Gesicht inmitten der Blütenpracht zeigen.

Die Ausstellung „Humanism in China“, die derzeit im Museum für Moderne Kunst in Frankfurt zu sehen ist, hat sich der Dokumentarfotografie verschrieben. Knapp 600 Aufnahmen, die 250 chinesische Fotografen in den vergangenen 50 Jahren, vor allem aber im post-maoistischen China nach 1978 gemacht haben, sind hier zu sehen – eine beeindruckende Fülle von Bildern, die nicht nur den chinesischen Alltag zeigen, sondern auch die rasante Entwicklung, die das Volk in den letzten Jahrzehnten durchlaufen hat.

Das Bemerkenswerte an der Schau, die zunächst im Guangdong Museum of Art in Guangzhou zu sehen war und nach Frankfurt auch in der Staatsgalerie Stuttgart, den Bayerischen Staatsgemäldesammlungen in München, den Staatlichen Museen zu Berlin und den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden gezeigt werden wird, ist, dass sie von chinesischen Kuratoren (An Ge, Hu Wugong und Wu Shao Qiu) ohne das übliche Organisations- und Bewertungskomitee konzipiert und – unverändert und unkommentiert – nach Deutschland importiert wurde. Mehr als zwanzig Provinzen und Autonomiegebiete des Landes haben die Organisatoren bereist und eine Art Feldforschung zum Stand der Dokumentarfotografie in China betrieben, die bis vor gar nicht langer Zeit allenfalls als Pressefotografie, nicht jedoch als Kunst anerkannt wurde. Im Fokus ihres Interesses stand der Mensch. Das Ergebnis ist ein Blick von innen, der den Anspruch hat, „authentisch und ehrlich“ zu sein und auch problematische Themen wie Drogenmissbrauch, Arbeitslosigkeit, Todesstrafe, Aids oder Prostitution nicht ausspart – wenngleich Bilder des brutalen Militärmassakers am Tiananmen-Platz 1989 oder Vergleichbares erwartungsgemäß fehlen.

Gegliedert ist die Ausstellung in die vier Themenblöcke „Existenz“, „Beziehung“, „Begehren“ und „Zeit“ – auch dies eine Vorgabe der Chinesen, Chronologie spielt keine Rolle. Der europäische Betrachter mag bisweilen ins Grübeln geraten, warum die Aufnahme eines Fuhrwerks, eines Lastwagens und eines zur Landung ansetzenden Flugzeugs in die Rubrik „Beziehung“ sortiert wurde. Und was, mag unsereiner sich fragen, hat das Begräbnis eines Katholiken oder der Bauer, der auf einem Telegrafenmast sitzt, um Leitungen zu reparieren, in der Rubrik „Begehren“ verloren, wo ansonsten weit näher liegende Motive wie Pärchen, Börse oder Mode zu finden sind?

Entscheidend ist, dass bislang noch keiner deutschen Museumsausstellung ein vergleichbar umfassender Einblick in die Situation der Menschen in China gelungen ist. So wertvoll und aufschlussreich eine Kunstschau wie die soeben zu Ende gegangene Ausstellung „Zwischen Vergangenheit und Zukunft“ im Berliner Haus der Kulturen der Welt in punkto Gefühlsleben und intellektueller Umsetzungsfähigkeit einer Gruppe chinesischer Künstler ist, so wenig ist sie doch in der Lage, die sozialen Gepflogenheiten und kulturelle Vielschichtigkeit von Bauern und Städtern, Traditionalisten und Modernisten, jungen Discobesuchern und betagten Wahrsagern zu vermitteln.

Zwar variieren die gezeigten Bilder in ihrer fotografischen Qualität erheblich, ihren Informationswert büßen sie dadurch nicht ein. Von entscheidender Bedeutung sind die Erklärungen unter den Bildern. So erfährt man, dass die zwei Männer, die sich jeweils einen Fön an die Backe halten, eine traditionelle Heilmethode ausprobieren, oder dass die schier unüberblickbare Versammlung von Frauen bloß vor einer öffentlichen Toilette am Bahnhof ansteht. Die Herren mit den Bambusstöcken wiederum stehen Schlange nach neuen Briefmarken für ihre Sammlung, und die vor Verzweiflung heulenden Männer mit ihren Päckchen haben soeben vom Verbot des Verkaufs an der Haustür erfahren. Ein Chinese, der seine Frau auf dem Rücken trägt, schont diese nach ihrer Sterilisation, womit auch das Thema Ein-Kind-Politik auf adäquate Weise berührt wird.

Jedes der in der Ausstellung gezeigten Werke wird dauerhaft in die Sammlung des Guangdong Museums aufgenommen. In einem Land, in dem die große Mehrheit der Bürger unter Fotografie neben Familien-, Propaganda- und Reportageaufnahmen allenfalls schöne Bilder versteht, die in ihrer Ästhetik Gemälde nachahmen, ist das eine große Überraschung.

Museum für Moderne Kunst, Frankfurt am Main, bis 27. August. Katalog (Edition Braus im Wachter Verlag) 35 €.

Sandra Danicke

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