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Buch der Woche: Das Kind im Koffer

In der Grauzone des Antifaschismus: Mit der Neuausgabe seines DDR-Erfolgsromans „Nackt unter Wölfen“ widerfährt Bruno Apitz späte Gerechtigkeit.

Er war so alt wie das 20. Jahrhundert, dessen Härte er auf exemplarische Weise zu spüren bekam. Am 28. April 1900 wurde Bruno Apitz als zwölftes Kind einer Waschfrau und eines Wachstuchdruckers in Leipzig geboren. Die Mutter verließ mit ihren jüngeren Kindern den trunksüchtigen Vater und eröffnete ein Molkereiwarengeschäft. Früh politisiert, wurde der Proletariersohn 1918 zu seiner ersten Haftstrafe wegen „versuchten Landesverrats“ verurteilt.

„Weihnacht in der Zelle“ hieß eine seiner ersten Kurzgeschichten. Weil er an einer Streikkundgebung teilnahm, musste Apitz sein Volontariat in einem Buchantiquariat abbrechen. Der Autodidakt arbeitete als Redakteur der „Roten Hilfe“, Plakatgestalter und Schauspieler. Er trat in die KPD ein und leitete ab 1928 die Leipziger Bezirksgruppe des Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller Deutschlands. Am 4. November 1937 wurde Bruno Apitz, den ein früherer KZ-Aufenthalt schon mehrere Zähne gekostet hatte, als „politisch Rückfälliger“ in Buchenwald interniert. Die Todesstätte am Ettersberg über Weimar konnte er erst bei der Befreiung durch die Amerikaner verlassen – am 11. April 1945. Seine Kameraden hatten ihn am Schluss tagelang in einem Schacht versteckt.

Was macht eine derart schreckliche Erfahrung mit einem Menschen? Aus einem Holzkloben der „Goethe-Eiche“, die nach einem Luftangriff in Brand geraten war, schnitzte Bruno Apitz das Antlitz eines Sterbenden im Halbrelief – eine seiner beeindruckendsten Plastiken. Zuvor hatte er schon als vielseitig begabter „Funktionshäftling“ bei der SS-Lagerleitung durch Schnitzarbeiten für Begehrlichkeiten gesorgt. Diese Funktionshäftlinge wurden in Buchenwald meistens aus den gut ausgebildeten, vor allem aber disziplinierten kommunistischen Häftlingen rekrutiert. Ob als unfreiwillige Helfer bei den Giftspritzen-Experimenten der Lagerärzte, ob in der Kläranlage oder der Pathologie, wo sie den Verstorbenen ihre Goldzähne herausbrechen mussten: Bruno Apitz absolvierte alle diese Stationen einer von Menschen errichteten Vorhölle.

„Eine Nacht ohne Schlaf. Der Tag begann. Hinein in den grauenden Morgen. Müd und zerschlagen. Fröstelnd und hungrig drängten wir uns auf dem Appellplatz zusammen. Wir wurden gezählt. Die Blockführer schimpften und fluchten. Die waren munter. Und wenn dann der Ruf ertönte: ‚Arbeitskommandos, antreten!’ dann ging es wieder in einen grauen, hoffnungslosen Tag hinein, und keiner von uns wusste, ob er lebend an diesem Tag zurückkehren würde.“

So schrieb der „Buchenwald-Häftling Nr. 2417“. Das verleiht seinem Prosa-Lebenswerk „Nackt unter Wölfen“ jene packende Authentizität, die stilistische Schwächen wie Doppelungen und Ungenauigkeiten entschuldigt. Apitz berichtet aus der „Grauzone“ (Primo Levi) zwischen Lager-SS und Häftlingsselbstverwaltung. Und er erzählt eine atemberaubende Geschichte nach, die sich tatsächlich ereignete: Versteckt in einem Koffer, hatte ein polnischer Jude seinen dreijährigen Sohn ins Lager mitgebracht.

Das Überleben des Kindes konnte nur durch die Solidarität der Häftlinge garantiert werden. Das kollidierte mit der Doktrin der illegalen Lager-KPD, die einen bewaffneten Aufstand plante. Das Kind wurde tatsächlich gerettet – in der Realität von Stefan Jerzy Zweigs Vater Zacharias, in Apitz’ Adaption als Waisenkind von den Genossen.

Selbst das streng antikommunistische Nachschlagewerk „SBZ von A bis Z“, herausgegeben vom Bonner Ministerium für gesamtdeutsche Fragen, sprach 1966 von einem „Roman aus dem KZ Buchenwald, der durch das erschütternde Thema und humane Gesinnung beeindruckt“. Die Holocaust-Überlebende Ruth Klüger hingegen geißelte „Nackt unter Wölfen“ als „Kitschroman“, denn er habe durch den Topos vom geretteten Kind den Völkermord an den Juden „infantilisiert, verkleinert und verkitscht“.

Apitz’ zwischen sentimental und makaber schwankender Anstaltsroman, der auf seiner Nachtseite ein Abenteuerroman ist, verfügt über ein Pandämonium von Akteuren von gut bis ultra-verbrecherisch. Oft habe er die Dialogpartien mit lauter Stimme inszeniert, schreibt Susanne Hantke in ihrem Nachwort zur verdienstvollen (erweiterten) Neuausgabe.

Eindrucksvoll rekonstruiert sie das materielle wie psychische Leiden, dem Apitz beim Schreiben ausgesetzt war. Trotz seines Status als NS-Verfolgter musste er von einer kärglichen Rente leben. Sein Filmexposé, das der Romanfassung vorausging, wurde als wenig erfolgversprechend abgelehnt. „Spitz, grau, unglücklich“ habe er ausgesehen, erinnerte sich später der „Westflüchtling“ Martin Gregor-Dellin. Unter dem Namen Martin Gustav Schmidt war der damals 30-jährige Apitz’ Lektor gewesen – auch das eine Ironie der Geschichte.

Mitten im Kalten Krieg war in der DDR der Kampf um die Deutungshoheit des kommunistischen Widerstands im Dritten Reich entbrannt. Systematisch diskreditierte die Moskau-treue Ulbricht-Fraktion die einstigen kommunistischen Kapos und ihren „Schwur von Buchenwald“. Sie gerieten unter Verdacht, mit der Lagerleitung kooperiert zu haben. „Nackt unter Wölfen“ konnte von vornherein kein autonomes Kunstwerk sein; vom „beschädigten Gedächtnis der Buchenwalder Kommunisten“ spricht Hantke.

Nicht nur der Titel wurde Apitz vom Lektorat des Mitteldeutschen Verlags oktroyiert, man verlangte ihm auch ideologische Korrekturen ab. So ist von den „Hilfsdiensten“ beim SS-Lagerarzt „Papa Berthold“ erst jetzt zu lesen; ebenso, dass der kleine Junge in der ersten Textfassung nach Bergen-Belsen deportiert werden sollte. Dort hätte er nicht überlebt. Doch so deutlich sollte das nicht ausgesprochen werden, denn sonst hätte es ausgesehen, als ob „die Partei ein Kind opfere“, befand ein Gegenleser. In Wahrheit fand ein makabrer „Opfertausch“ statt: Statt des Koffer-Kindes wurde ein anderer Junge in den Tod geschickt.

„Die hinzugefügten Textstellen stellen nicht immer sprachliche Verbesserungen dar“, schreibt die Herausgeberin: „Sie sind Ausdruck der gedanklichen Welt des ehemaligen Buchenwaldhäftlings, die bei der schreibenden Rückbesinnung auf die Haftjahre wieder heraufdrängte.“ Der Roman erreichte eine Gesamtauflage von annähernd drei Millionen, wurde in dreißig Sprachen übersetzt und war in der DDR Schullektüre. Auch in der Bundesrepublik erfuhr das Buch eine eigentümliche Rezeption: Zwar wurde es als erster in der DDR publizierter Roman im Westen veröffentlicht, aber Frank Beyers Verfilmung von 1963 mit Armin Mueller-Stahl und Erwin Geschonneck durfte bis 1968 nur in geschlossenen Veranstaltungen gezeigt werden.

Mit großem propagandistischen Brimborium ermöglichte die DDR dem israelischen „Buchenwald-Kind“ Stefan Jerzy Zweig eine Ausbildung bei der DEFA. Doch der junge Mann litt sehr unter dieser Bezeichnung und der damit verbundenen öffentlichen Aufmerksamkeit. Bald verließ er das Land wieder. Sein Verhältnis zu Bruno Apitz, der 1979 starb, blieb bis zuletzt unterkühlt.

Bruno Apitz:

Nackt unter Wölfen. Roman. Erweiterte

Neuausgabe. Hg. von

Susanne Hantke

und Angela Drescher.

Aufbau Verlag,

Berlin 2012.

586 Seiten, 22,90 €.

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