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Nichts ist vergessen.

© Graf Verlag / Ausschnitt

Bücher zur Leningrader Blockade: In der Hungerhölle

Die Hölle sind die anderen: Zwei erstaunliche Bücher von Lena Muchina und Lidia Ginsburg berichten aus der Zeit der Leningrader Blockade.

Die vom Kalender gesteuerte Erinnerung, derzeit beim Ersten Weltkrieg angelangt, hat die Schrecken des Zweiten fast verdrängt. Dabei spiegelt sich die zweieinvierteljährige Leningrader Blockade, die am 27. Januar 1944 endete, in zwei erstaunlichen Büchern. Nach dem ergreifenden Tagebuch der 1940 16-jährigen Lena Muchina, die die Tage bis zu ihrer Evakuierung aus dem Millionengrab Leningrad 1942 beschreibt, sind nun „Aufzeichnungen eines Blockademenschen“ erschienen, in einer stark erweiterten, für das Verständnis des Textes unentbehrlichen Neuausgabe. Lidia Ginsburg heißt die Autorin. Im Unterschied zur Schülerin Lena, deren Tagebuch nach Jahrzehnten im Parteiarchiv ans Licht kam, war sie sowohl Schriftstellerin als auch Sprachwissenschaftlerin aus dem Umkreis von Viktor Schklowskij und den sogenannten Formalisten.

1984 konnten ihre Aufzeichnungen in einer Leningrader Zeitschrift erscheinen. Der die Neuausgabe einleitende Text „Eine Erzählung von Mitleid und Grausamkeit“ fand sich indes erst 2006 im Nachlass der 1990 verstorbenen Autorin. Der russischen Ausgabe von 2011 folgt jetzt die deutsche, zu der Karl Schlögel ein Nachwort beigesteuert hat.

Die Blockade mit ihren zwischen 800 000 und einer Million Hungertoten ist in der Sowjetzeit stets als Heldenerzählung weitergegeben worden. Die Realität von Hunger und Kälte, zumal im ersten Winter 1941/42, ließ das bloße Überleben zur übermenschlichen Anstrengung werden. Aber die Beschreibung ist etwas anderes als das spätere Urteil

Ginsburgs Erzählung von der Hölle

Ginsburgs Text ist eine Erzählung von Mitleid und Grausamkeit, von Schwächen und Gemeinheiten, von der Hölle, die die anderen sind, auch wenn sie alle gleichermaßen ins Ausgehungertwerden gezwungen sind. Und es ist der Tod, der Lidia Ginsburgs Mutter ereilt, wie auch diejenige von Lena Muchina: Beider Sterben wird in den jeweiligen Texten berichtet. Erst in der Schilderung des allernächsten Leidens gewinnen die 872 Tage der Blockade ihre ganze Realität.

Lidia Ginsburg hat sich in der einleitenden „Erzählung“ ein männliches Alter Ego gegeben und ihre Mutter zur „Tante“ erklärt. Während die Tante stirbt, isst der „Andere“, der sie schikaniert hatte. „Er aß, gepeinigt von Trauer. Das war die heftigste Empfindung von Trauer und Gram, die er im Zusammenhang mit diesem Tod verspürte. Essen, das Erlebnis des Essens war fest mit ihr assoziiert, und das war nun zu Ende, und zu Ende gegangen war auch das Interesse, das menschliche Interesse am Essen; was blieb, war etwas Düsteres und Tierisches. Er kaute und schluckte, und der durch Leiden geschaffene Alltag, der Aufbau jenes Jahres mit seinen ,kleinen Freuden’, wie die Tante gesagt hatte, ging für ihn zu Ende.“

„Man hätte mehr tun können“, heißt es, als sich das fürchterliche Ende bereits ankündigt: „Vielleicht hätte man sie retten können. Doch in der Welt der schrecklichen Wörtlichkeiten, in der das alles geschah, stand das eigene Leben auf dem Spiel. All das vollzog sich ohne das geringste Heldentum. Doch sein Leben regelrecht mit Vorbedacht zu opfern war er nicht bereit, und er fühlte sich auch nicht dazu verpflichtet.“

„Keiner ist vergessen und nichts ist vergessen“

Wohl nie zuvor ist mit solcher Schärfe auf das geblickt worden, was die Aushungerung dem Menschsein antut. Dieser analytische Blick geht der jungen Lena Muchina naturgemäß ab. Sie führt ein Tagebuch, diktiert vom Augenblick. „Gestern Morgen ist Mama gestorben. Ich bin nun allein“, heißt es unter dem Datum des 8. Februar 1942. Die nächste Eintragung handelt vom Heizen. Die übernächste schließt mit dem zärtlichen Diminutiv „Mamotschka“. Lena Muchina hat die Veröffentlichung ihres Tagebuchs nicht mehr erlebt. Sie starb 1991. „Keiner ist vergessen und nichts ist vergessen“, heißt es auf den Mauersteinen des Piskarew-Friedhofs mit seinen endlosen Massengräbern der Blockadetoten. Dieser mahnende Aufruf ist in beiden Büchern eingelöst.

Lena Muchina: Lenas Tagebuch. Leningrad 1941–1942. Aus dem Russ. von Lena Gorelik und Gero Fedtke. Graf Verlag, München 2013. 375 S., 18 €.

Lidia Ginsburg: Aufzeichnungen eines Blockademenschen. Aus dem Russischen von Christiane Körner. Suhrkamp, Berlin 2014. 242 S., 22,95 €.

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