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© Drama

Neuköllner Oper: Chris die Tür nich’ zu

Wer früher stirbt, ist länger tot: Peter Lunds neues Musical in der Neuköllner Oper ist eine doppelbödige Sozialsatire.

Chris ist ein echtes Ekel. Natürlich weiß der Gymnasiast aus der brandenburgischen Kleinstadt, dass ein guter Schulabschluss seine einzige Chance ist. Aber fürs Leben lernen? Dazu ist er einfach zu cool. Seinen strebsamen kleinen Bruder verhöhnt er als „Teiggesicht“. Zu Chris’ Freizeitvergnügen gehört es, die Wände, die sein Anstreicher-Vater gerade geweißt hat, mit Graffiti zu besprayen. Danach geht’s mit den Kumpels zum Koma- saufen. Seine Freundin versetzt er am laufenden Band, und wenn sich nur die kleinste Gelegenheit dazu bietet, macht er mit anderen Mädels rum.

Zwei Tage nach seinem 18. Geburtstag schnappt sich Chris die Vespa seiner Schwester, rast im Frühnebel über die Landstraße und knallt mit 100 Sachen gegen einen Baum. Peter Lunds neuestes Musical „Leben ohne Chris“ beginnt genau in diesem Moment und entwickelt sich in einer virtuosen Mischung aus Rückblenden und Parallelszenen zu einer Story über den Tod und unseren Umgang mit dem Unfassbaren.

Seit Peter Lund 2003 seinen Job als Chefregisseur der Neuköllner Oper gegen den eines ordentlichen Musical-Professors an der Universität der Künste eingetauscht hat, ist er immer wieder mit seinen Studierenden für Koproduktionen an sein früheres Stammhaus zurückkehrt. Mit „Leben ohne Chris“ erweist er sich dabei einmal mehr als bedeutendster Musikkomödienschreiber, den der deutschsprachige Raum derzeit zu bieten hat. Seine Werke sind doppelbödige Sozialsatiren, die unter ihrer höchst unterhaltsamen Oberfläche stets einen ernsten Kern haben, der ebenso von sensiblem analytischem Geist wie wacher Zeitgenossenschaft zeugt.

Mitte des 19. Jahrhunderts haben Jacques Offenbach mit seinen Librettisten in Frankreich sowie das Duo Gilbert & Sullivan in Großbritannien die gesellschaftlichen Verhältnisse ihrer Epoche auf ähnlich geistreiche Weise durchleuchtet und die Beobachtungen in Stücken verarbeitet, die über alle Klassengrenzen populär werden konnten, weil sie allgemeingültige Themen auf heitere Weise anpackten.

Genau das vermisst man heute im Musical-Business. Nachdem die großen Unterhaltungsproduzenten zuletzt auf Stücke gesetzt haben, bei der bekannte Melodien mit einer neuen Story ummantelt werden („Mamma mia“, „Ich war noch niemals in New York“), geht derzeit der Trend dahin, erfolgreiche Filme auf die Bühne zu bringen („Schuh des Manitu“, „Dirty Dancing“, „Spamalot“, „The Producers“). Hier wird dem Publikum keine eigene Rezeptionsleistung mehr zugemutet, jedes Detail ist bereits bestens bekannt. Bei „Leben ohne Chris“ dagegen stößt Lund seine Zuschauer unablässig mit der Nase auf jene Probleme, denen sie schon in ihrem Alltag am liebsten aus dem Weg gehen. Wie funktioniert das mit der Erinnerung an die Toten? Lohnt es sich, dem Leben einen Sinn zu geben? Wie einsam sind die, die an der Spitze stehen?

Eltern, die Vorbild oder abschreckendes Beispiel sein könnten, kommen in diesem Teenager-Drama um den frühen Tod des Cliquen-Bosses Chris nicht vor. Die perspektivlosen Kids müssen sich ihre Vision von der Zukunft schon selber erarbeiten. Das Leben ist eben kein Musical. Faszinierend, wie mühelos Peter Lund die Sprache der Halbwüchsigen in Dialoge und Songtexte übersetzt, die niemals konstruiert wirken. Großartig, wie sich die Studenten in ihre Rollen stürzen: Tobias Bieri und Christopher Brose, Magdalena Ganter, Jasmin Schulz, Katrin Höft, Karoline Goebel und Julia Gámez Martin, Sebastian Stipp, Dennis Jankowiak und Henrik Schall gehen weit über die üblichen Musical-Schablonenfiguren hinaus und haben sich echte Charaktere erarbeitet. Sie stürzen sich todesmutig in die akrobatischen Choreografien von Neva Howard, bringen Wolfgang Böhmers stilistisch schillernde Songs rockig über die Rampe, souverän unterstützt vom langjährigen Neuköllner Opern-Recken HansPeter Kirchberg mit seiner fünfköpfigen Combo. Ein toller Jahrgang.

Am Ende – da verbeugt sich Lund dann doch vor der Musical-Konvention – wird alles gut. Den Hinterbliebenen verpasst Chris’ früher Tod den entscheidenden Kick auf dem Weg zum privaten Glück – und der Verblichene schlüpft, geleitet von einem Engel, durch eine himmlische Tapetentür ins Elysium. Halleluja!

„Leben ohne Chris“, Neuköllner Oper, Karl-Marx-Str. 131 – 131. Bis 15. Mai, donnerstags bis sonntags, jeweils 20 Uhr

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