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Bühne: Election-Day-Countdown

David Mamets "November" am Renaissance-Theater lässt jede Tagesaktualität vermissen.

Keine Frage, das Renaissance-Theater hat den Finger am Puls der Zeit. Zumindest auf den ersten Blick. David Mamets Politfarce „November“, die vom Ringen eines korrupten US-Präsidenten um seine scheinbar aussichtslose Wiederwahl erzählt, feiert mitten in der heißen Phase der McCain-Obama-Konkurrenz Premiere – Election-Day-Countdown am Ernst-Reuter-Platz! Aber, ach, Theater und Tagesaktualität, sie werden in diesem Leben keine Freunde mehr. Denn der zweite Blick verrät, dass Mamets Broadway-Stück nicht gestriger sein könnte. Der Dramatiker war so freundlich, in einem Essay für die New Yorker „Village Voice“ im März dieses Jahres selbst zu erläutern, worum es in der Oval-Office-Groteske eigentlich geht: Um seine eigene Wandlung zum Konservativen nämlich. Unter der Überschrift „Warum ich kein ‚hirntoter Liberaler mehr bin“, führt Mamet aus, dass erstens schon John F. Kennedy nicht integrer war als George W. Bush, und dass zweitens der Staat sich tunlichst aus den Belangen der Menschen und der Wirtschaft herauszuhalten und auf die staunenswerten Selbstheilungskräfte der freien Märkte zu vertrauen habe. Interessante Sicht. Ob er das heute noch unterschreiben würde?

„November“ bietet allerdings, wie die Reaktionen auf die deutsche Erstaufführung am Renaissance-Theater bewiesen, genügend Oberflächenkitzel, um als Satire auf die Bush-Ära missverstanden zu werden. Doch darum geht's nicht. Die zwei Seelen, die in seiner Brust gestritten haben, lässt Mamet im zentralen Disput zwischen dem Präsidenten Charles Smith (Rufus Beck) und dessen liberaler, lesbischer Redenschreiberin Clarice Bernstein (Anna Franziska Srna) Gestalt annehmen – um am Ende der erwartbaren Weltsicht zum Sieg zu verhelfen.

Regisseur Torsten Fischer setzt die bissigen Dialog-Scharmützel in Herbert Schäfers Oval-Office-Bühne durchaus unterhaltsam und mit Talent für boulevardeske Turbulenzen in Szene. Und Rufus Beck spielt mitreißend das ideologieresistente Stehaufmännchen des Wahlkampfs, den rückgratlosen Radikal-Pragmatiker, der bereit ist, sich von einem Truthahn-Lobbyisten (Nikolaus Okonkwo) kaufen zu lassen, dessen Vögel er zu Thanksgiving medienwirksam begnadigen soll. Ebenso gut ist Tilo Prückner als Anwalt Archer Brown – ein Strippenzieher, der das eigene Leben hintanstellt, um die Kohlen aus dem Feuer zu holen.

Mamet besitzt den Blick für die Absurditäten des Politbusiness. Aber in seiner Attacke der politischen Korrektheit kennt er kein Maß. Seine Witze gehen auf Kosten der Minderheiten, der Schwulen, auch eines Indianerhäuptlings (Friedrich Schoenfelder). „November“ ist keine Satire, es ist Demagogie. Patrick Wildermann

Wieder 14. bis 18. Oktober

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