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Bühne: Wir spielen weiter

Ergreifend, grandios: Jürgen Gosch inszeniert die "Möwe“. Und das Deutsche Theater triumphiert in der Volksbühne.

Diesen Abend vergisst man nicht. Er ist ein Geschenk. Den ja nie ganz verlorenen Glauben ans Theater bringt er zurück, mit einem Mal wird alles so einfach, so klar. Aus Rollen und Figuren werden: Menschen. Dramaturgie, Schauspielerei, Ausstattung, der ganze Theaterbetrieb ist ergriffen: vom Leben.

Drei Stunden lang – wenn sie doch nie vorübergingen! – fühlt man sich aufgehoben, angehoben in einer Sphäre, für die Tschechow die Chiffre Landleben benutzt. Es ist aber nichts anderes als ein Kunstraum, anatomisches Theater der comédie humaine. Und Jürgen Gosch, der Regisseur, holt die Zuschauer mit hinein. Im Parkett stehen grelle, heiße Scheinwerfer, die Bühne hat sich weit in die Sitzreihen vorgeschoben. Tschechows „Möwe“ – so plastisch sah man es nie – ist vom ersten bis zum letzten Atemzug ein Stück über das Theater. Es erzählt von Schauspielern und Schriftstellern, und wie sie scheitern. Weil der Einsatz immer der höchste ist – das eigene Leben und das der anderen. Eine verzweifelte Liebe, eine schöpferische Sehnsucht, gleichwie, das Subjekt findet sich wieder als Sujet.

So einfach, so furchtbar komisch. Lachen, weinen. Tschechows „ Möwe“ mit all ihren Theateranekdoten nennt sich „Komödie“. An diesem erschütternden, befreienden Premierenabend in der Volksbühne, wo sich das im Umbau befindliche Deutsche Theater mit großer Kunst für das Gastrecht bedankt, bleiben die Augen nicht trocken. Ein Wunder!

Es schließen sich die Kreise. Vor dreißig Jahren inszenierte Jürgen Gosch, Jahrgang 1943, am Rosa-Luxemburg-Platz Büchners „Leonce und Lena“. Die Aufführung wurde abgesetzt, Gosch ging in den Westen. Im Januar 2008 schuf Gosch am Deutschen Theater mit seinem „Onkel Wanja“ ein Theatererlebnis, das schon Legende ist, die „Inszenierung des Jahres“. Zwischen dem „Wanja“ und der „Möwe“ schlägt die Nachricht von Goschs schwerer Krankheit ein. In Wien und in Berlin hat er Regiearbeiten abgesagt. Der Schatten fällt auf das Bühnenbild von Johannes Schütz. Wieder spielen sie vor der hohen, kahlen Wand mit der Sitzbank. In Goldgelb und hellen Brauntönen changiert das „Onkel Wanja“-Land. Der luftige „Möwen“-Käfig hat keine Farben mehr. Wand und Bank schimmern pechschwarz.

Man muss diesen Anblick verdauen – und das dünne Programmheftchen mit der Zeichnung eines Selbstmörders und der (frühen) Tschechow’schen „Erzählung ohne Schluss“. Da weiß ein Schriftsteller nicht, wie er seinen tragischen Plot beenden soll. „Wandelbar ist alles auf der Welt, und komisch ist diese Wandelbarkeit! Ein weites Feld für die Humoristik! Kleb’ einen humoristischen Schluss dran, Freund!“

Und dieses Gosch-Ensemble spielt auf, wie man lange kein Ensemble gesehen hat. Sie kommen seitlich herein, eine feierlich-lächerliche Prozession. Sie kommen auf die Bühne, um zu bleiben. Sitzen auf der Bank und beobachten einander im Spiel. Wie in einer Therapiegruppe. Wie im Theater der sechziger oder siebziger Jahre – dieses seltsame Wir-Gefühl. Aktion und Absurdität. Wir gehören zusammen, wir pfeifen auf die Hierarchie von Haupt- und Nebenrollen, wir machen das gemeinsam, auf Gedeih und Verderb.

Goschs Ideal ist ein nacktes Theater von höchster Konzentration. Keine Tricks, keine Illusionen. Strenge Disziplin. Es findet ein Kampf auf Biegen und Brechen statt – um Würde und Aufmerksamkeit, ein jeder hat das Recht auf seine Geschichte. Menschen, Material. Das kommt sehr nah an das Tschechow’sche Schreiben heran. Wann hat ein Regisseur einen Dramatiker so berührt, und umgekehrt! Gosch lässt drei Akte durchspielen, dann erst die Pause; zwei Jahre vergehen in der Zwischenzeit, sagt Tschechow. Gosch steigert die Dynamik auf ein unfassbares Ende hin.

Vor dem Schlussakt entfaltet sich eine große Aufführung, danach ist’ s grandios. „Onkel Wanja“ nimmt ja eine ähnliche Kurve. Jetzt aber nichts von Transzendenz, spiritueller Hingabe, Ausharren. Das Leben bricht hart und trocken ab.

Sie sind alle so nervös, sagt jemand nebenbei. Eine schöne Untertreibung. Diese Typen in Alltagsklamotten hetzen einander ins Verderben, stehen unter Leidens- und Erfolgsdruck. Menschen von heute, keine Zeit, kein Geld, keine Ruhe, und was heißt Empathie! Corinna Harfouchs Arkadina ist auf den ersten Blick die Härteste. Diese vielleicht doch nicht so umjubelte, einsame Schauspielerin (wenn man Tschechow genau zuhört), mit ihrer Angst vorm Alter. Die Harfouch spielt brillant in ihrer Kühle, Verständnis für ihre Egozentrik fällt nicht schwer, und es ist so klug überlegt von Gosch, ihren Liebhaber, den Schriftsteller Trigorin, mit dem gut zwanzig Jahre jüngeren Alexander Khuon zu besetzen. Trigorin, ein verträumter Schwächling. Schlagartig offenbart sich die libidinöse Natur des Konflikts zwischen der Arkadina und ihrem Sohn. Auch Kostja will zum Theater, will schreiben: Jirka Zett spielt mit Inbrunst einen blonden Ödipus-Jüngling mit weit aufgerissenen Augen, als stehe er unter Drogen. Panik treibt ihn um. Nackte Panik.

Und nicht nur ihn. Meike Drostes Mascha, die Tochter des Gutsverwalters, liebt Kostja mit selbstzerstörerischer Besessenheit. Eine verhärtete, bittere junge Frau, die ihrem unglücklichen Ehemann Semjon (Christoph Franken) das Leben zur Hölle macht. Semjon, ein schwitzender Dicker, der aus Kummer tafelweise Schokolade frisst (während die andern Wodka saufen), liefert den erbärmlichen Beweis dafür, dass es manchmal nichts Schlimmeres gibt als erfüllte Wünsche. Er hat sich nach dieser finsteren Mascha, die ihn nie lieben und nur quälen wird, verzehrt wie ein verhungerndes Tier.

Was für ein Menschenzoo! Bernd Stempel, der groteske Riese von Gutsverwalter, mit seinen ewig blöden Theatergeschichten. Und Christian Grashof, der Bruder der Arkadina, wieder mit seinen aufbrausenden Rampenferkeleien. Ständig mimt er den Kranken, Fallsüchtigen, setzt Alter und angeschlagene Gesundheit wie eine Waffe ein. Und wird doch, der Doktor sagt es ihm ins Gesicht, bald sterben. Peter Pagels Landarzt ist der ruhende Pol in der Menagerie. Er macht nicht mehr mit bei diesem Rattenrennen nach dem Glück. Ein verlorener Intellektueller, der von Erinnerungen lebt. Eine wunderschöne kleine Szene: Wie die Harfouch auf die Affäre anspielt, die sie wohl mal hatten, vor langer Zeit.

Die Entdeckung des so überreichen Abends, der wie die Summe eines Theaterlebens wirkt, ist Kathleen Morgeneyer. Geboren 1977, Ausbildung an der Schauspielschule Ernst Busch in Berlin, Ensemblemitglied am Düsseldorfer Schauspielhaus: Ihre Nina kommt von einem andern Stern: zart und schmal, mit Scheinwerferaugen, keine gewöhnliche Schönheit, sondern ein Gesicht, in dem man ganze Dramen lesen kann und künftige, große Rollen. Nina ist alles: Naiv, ehrgeizig, liebevoll und rücksichtslos. Zerbrechlich, selbstvergessen und wie alle hier nah am Wasser gebaut.

Ansatzlos stürzen sich die Frauen in heftigste Ausbrüche. Mascha, Nina, die Arkadina: rasende Furien plötzlich, kreischende Nervenbündel, da hilft kein Arzt. Und die Zeit heilt keine einzige Wunde. – Der Schluss: Sie spielen Lotterie, hocken am Boden. Kostja geht hinter die Bühne, erschießt sich. Der Arzt sieht nach, informiert Trigorin. Die Schauspieler gefrieren in der Bewegung. Blackout im vollen Licht. Stille. Der Tod hält die Zeit an. Nur kurz. Ein, zwei unendliche Minuten. Dann kommt Kostja zurück. Das Leben geht weiter, sie stellen sich auf zum Applaus. Sie holen ihren Regisseur. Jetzt ist es sein Applaus. So intensiv, von Herzen. Man kann, man will sich nicht losreißen.

Wieder heute und am 23. und 29. 12. sowie am 6. und 21. Januar.

Rüdiger Schaper

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