zum Hauptinhalt
Der Prozess

© Arno Declair

Berliner Theatertreffen: Josef K. und sein Chor

Der Prozess. Andreas Kriegenburgs Kafka-Dramatisierung reist aus München an. Die Kammerspiele sind derzeit deutscher Meister im Adaptieren von Romanen.

Eigentlich sollte der Zuschauer dem Theater dankbar sein, dass es ihn immer häufiger in die Bibliothek schickt, Abteilung große Romane. Wäre er sonst so oft dort? Und ist er beim Wiederlesen eines Roman nicht neugieriger als beim zigsten „Hamlet“ oder „Kabale und Liebe“? Einige Titel der Saison: „Hiob“ von Joseph Roth, „Verbrechen und Strafe“ von Dostojewski, „Der Prozess“ von Kafka, „ClockworkOrange“ von Burgess, „Doktor Faustus“ von Thomas Mann, „Der Fremde“ von Camus.

Allerdings: Was bleibt nach dem halben Dutzend Theaterabende, zu deren Vorbereitung der Kritiker viele Stunden wachträumend im eigenen Kopfkino verbracht hat? Was hatte die Bühne seinen Bildern, die nicht selten mit Kinobildern vermischt waren, hinzuzufügen oder entgegenzusetzen?

Zwei Aufführungen von den Münchner Kammerspielen machen durch ihr außerordentliches Gelingen Lust, ein paar Antworten zu versuchen: „Hiob“ nach Joseph Roth, der neulich im Berliner Hebbel am Ufer zu sehen war, und „Der Prozess“ nach Franz Kafka, der zum Theatertreffen eingeladen ist. Beides sind epochale Werke von osteuropäisch-jüdischen Schriftstellern des frühen 20. Jahrhunderts, und ihre Romanhelden teilen das gleiche Schicksal: Mendel Singer und Josef K. fühlen sich einem Gesetz unterworfen, dessen Sinn ihnen dunkel bleibt. Vielleicht gilt: Je universeller und bekannter ein Stoff, desto kühner kann das Theater sein eigenes Bild entwerfen – wenn es kann.

Die Welt des Schtetl am Anfang von „Hiob“ – mit Kaftan, Bärten und Schläfenlocken – ist spätestens seit „Anatevka“ zum Mitsingen bekannt. Nichts davon bei Johan Simons und seinem Ausstatter Bert Neumann. Ein stillgelegtes, mit Gardinen verhängtes Karussell dient Familie Singer als zugige Wohnung. Der gottesfürchtige Bibellehrer sieht bei André Jung aus wie ein anatolischer Bauer, Pelzkappe, moderne Brille und Armbanduhr, und er denkt gar nicht daran zu jiddeln (was er allerdings auch bei Roth nicht tut).

Und Kafka? Seit Orson Welles jagt der hohlwangige Anthony Perkins durch eine neoexpressionistische Schattenwelt vergeblich seinem Prozess nach. Bei Andreas Kriegenburg, der sein eigener Bühnenbildner ist, schauen wir in einen nach vorn gekippten augenförmigen Trichter, dessen Iris sich wie ein Teufelsrad drehen kann. Darauf ist Josef K.’s Mobiliar (Eisenbett, Tisch mit Schreibmaschine, Stühle) festgeschraubt. Gleich acht K.’s turnen halsbrecherisch darauf herum, schwarz gewandete Chaplins mit Menjoubärtchen, darunter vier Damen, die sich nach Bedarf in K.’s erotische Objekte (Fräulein Bürstner, Leni) verwandeln können.

Simons und Kriegenburg: Es ist beide Male ein starkes, überrumpelndes Bild, das eine Schneise in die präformierte Erwartung des Zuschauers schlägt – ohne ihn allerdings durch eine trotzige, hermetische Kunstbehauptung zurückzustoßen. Beide Male ist es eine Scheibe, das Rad des Lebens, das sich immer weiter dreht, das den Helden aber auch gnadenlos zermalmen oder aus seiner Welt reißen kann. In „Hiob“ setzt sich das Karussell erst in Bewegung, als Singer mit seiner Familie nach Amerika emigriert - der Auftakt zu ihrer Zerreißung und Vernichtung. Im „Prozess“ rotieren die acht Protagonisten gegen Ende, mit den Knien an Haken eingehängt, käfergleich auf der Scheibe. Wenn die Scheibe ganz zum Schluss stillsteht, hängt der letzte K. dort wie der Gekreuzigte.

Wie wird erzählt? Eine brave Dialogisierung (wie es etwa Peter Weiss bei seinem „Prozess“ tat) kann es nicht sein. Johan Simons und Andreas Kriegenburg schaffen mit dem Münchner Ensemble jeweils eine lebende, molluskenhafte Erzählskulptur: Jeder ist zugleich Spieler und Erzähler der Figur, zusammen sozusagen ein episches Wir.

Simons, von Haus aus „Epiker“, hat in „Hiob“ eine Familiengeschichte zu erzählen und lässt zumindest den Hauptfiguren ihr Recht auf Identität. Kriegenburg, der poetische Choreograf, zaubert mit seiner K.-Gruppe ein Slapstick-Feuerwerk, doch am Ende gibt er dem Bedürfnis nach „tragischer“ Individualisierung des Opfers klug nach. Für unsere Empathie brauchen wir den einen K. Kann uns die Bühne endlich verraten, worin seine Schuld liegt? K. selber fragt sich einmal: „Ist es, weil ich nie geliebt habe?“ Natürlich kann das nicht die Antwort sein, doch Kriegenburg folgt der Fährte mit genialen Körperbildern: Einmal umwickeln die K.’s Fräulein Bürstner wie eine Mumie mit Mullbinden, um sie betasten und küssen zu können. Oder sie legen sich als Voyeure sternförmig zu Lenis Füßen, während sich ihr Unterrock aufwärts bläht. Hat man das Pubertäre, Unreife von K.’s (Kafkas) Sexualität je besser begriffen?

Auch Mendel Singer fragt sich: Könnte es sein, dass mich Gott verdammt, weil ich zu wenig geliebt habe? Obwohl er sein behindertes Kind, den Epileptiker Menuchim, über alles liebt, lässt er es im Schtetl zurück. Unvergesslich, wie André Jung anfangs bei dem liegenden Wesen kauert, das nicht sprechen kann, und flüstert: „Ich könnte mit dir allein leben.“ Sylvana Krappatsch spielt diesen Menuchim, ein Engel in schwarzem Anzug, ohne Geifer und Grimassen. So tritt er dem Vater, medizinisch geheilt und als erfolgreicher Komponist, in Amerika auch wieder gegenüber: ernst, fast ein Zombie. Die kitschige Fantasie des Joseph Roth, der das Kinomelodram liebte: wundersam transformiert. Die diskrete Kunst des Johan Simons: Auf der Bühne findet die Verwandlung im Kopf des Zuschauers statt.

Die Ära Frank Baumbauers an den Münchner Kammerspielen endete übrigens gerade mit einer Romanadaption: mit Hans Falladas „Kleiner Mann – was nun?“ Wieder war der Zuschauer ein paar Stunden in seinem Kopfkino. Und siehe da, der sonst so strenge Kunst-Exerzitienmeister Luk Perceval schaffte ebenfalls ein Wunder: Er zeigte Gefühl.

Andres Müry

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false