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Theater: Feuerland ist abgebrannt

Uraufführung in Paris: Ariane Mnouchkine und ihr Théâtre du Soleil segeln mit Jules Verne zurück in eine Zeit der Utopien und Katastrophen - und kehren dabei zurück in das Reich des Stummfilms.

Die Einführung des Tonfilms vor achtzig Jahren machte Schauspieler arbeitslos, die über keine vorzeigbare Stimme verfügten – egal wie stark ihr Spiel vor der Stummfilmkamera war. Nun kehrt Ariane Mnouchkine in der neuen Produktion ihres legendären Théâtre du Soleil die Geschichte um: Verstummen als ästhetisches Prinzip. Fast vier Stunden lang ist auf einer Tafel per Projektion zu lesen, was ihre Schauspieler in der Cartoucherie von Vincennes nicht laut sagen, ganz so, wie es das Stummfilmpublikum vor 1930 gewohnt war. Ariane Mnouchkine und ihre Truppe kehren zurück ins Reich bildhafter Expression.

Ein Schiff strandet in Feuerland, ein Kontinent schlittert in den ersten Weltkrieg, und die Menschen in einem Ausflugslokal entdecken den Kinematographen. Ein komplexes Puzzle, in dem reale und imaginäre Ereignisse des Übergangs vom 19. ins 20. Jahrhundert verknüpft werden. Den Anstoß zu der gewaltigen Produktion gab der unvollendete Roman „En Magellanie“ von Jules Verne. Erst sein Sohn vollendete ihn unter dem Titel „Les Naufragés du Jonathan“.

Es geht um die Begegnung eines einsamen Inselbewohners mit einem Schiffbrüchigen am Kap Horn. Die beiden lassen sich ein auf ein gewagtes Experiment: Cineasten wollen ihre Geschichte mit Leuten aus einem Ausflugslokal drehen. Das Tanzlokal heißt „Fol Espoir“ und ist Sammelplatz für Menschen mit verrückten Hoffnungen. In die fieberhaften Filmarbeiten platzen die Nachrichten vom Mord am französischen Sozialistenführer Jean Jaurès und das Attentat von Sarajevo, das den Ersten Weltkrieg auslöst.

Die Welt erleidet Schiffbruch. Was sich zunächst wie eine komplizierte Collage anhört,verbindet sich in Ariane Mnouchkines Regie zu einem ästhetisch überzeugenden Tableau. Das Verfahren erinnert an das vorige Soleil-Stück „Les Ephémères“ mit Szenen aus dem heutigen Alltag. Nun geht die Reise in das letzte, schon so ferne Jahrhundert. Vor jeder Szene werden Kulissenmalereien herbeigefahren und Bühnenbilder zusammengebaut, und unter der Filmregie von Jean la Palette und seiner Schwester Madame Gabrielle beginnt jede Aufnahme mit der Beschwörungsformel: Drehe die Kurbel!

Ariane Mnouchkine spart nicht mit burlesken Slapstickeffekten bei dieser Roman-im-Film-im-Theater-Überblendung mit prachtvollen Fin-de`Siècle-Kostümen. Alle ihre Schauspieler sind während der fast vier Stunden in Bewegung: mal als Kulissenschieber, mal in einer Statistenrolle, mal als Hauptdarsteller, mal als derjenige, der in den Sturmszenen an den Bindfäden zieht. Die Gestik ist grotesk übertrieben, der Ausdruck wie im expressionistischen Film übersteigert.

Aber es erscheint nur natürlich, dass Mnouchkine, die immer schon ein vom fernen Osten inspiriertes Theater des großen Ausdrucks gemacht hat, der speziellen europäischen Stummfilmästhetik eine Arbeit gewidmet hat. Es ist auch eine Rückkehr der 71-Jährigen zu frühen prägenden Erfahrungen. Die Tochter des nach Frankreich emigrierten russischen Filmproduzenten Alexandre Mnouchkine stand als Mädchen einmal in einer kleinen Rolle in dem Mantel-und-Degen-Film „Fanfan der Husar“ vor der Kamera.

„Les Naufragés du Fol Espoir“ sucht nach der Poesie der kleinen Dinge - wenn man Zweige vor dem Set vorbeiführt, um eine Kutschenfahrt zu illustrieren, ein Vogel aus Draht durchs Bild fliegt oder ein Flaschenzug die Kamerafrau in die Höhe hebt. Die Pioniere des Films und die Pioniere einer gerechteren Gesellschaft sind hier gemeinsam auf der Suche nach der Utopie. Und während der auf Feuerland gestrandete Aristokrat mit den progressiven Ideen einsehen muss, dass die gerechte Gesellschaft an den niederen Trieben der Menschen scheitert, müssen die Filmemacher erkennen, dass am Vorabend des Ersten Weltkriegs die Zeit für die Dreharbeiten knapp wird.

In einer letzten gewaltigen Anstrengung macht sich die Schiffbruchsgesellschaft auf zum Bau eines Leuchtturms, mit dem auch Jules Vernes Roman endet. Wenn man schon nicht den roten Morgen einer neuen Gesellschaft erlebt, so sollen doch wenigstens andere Schiffsreisende durch ein Licht vor dem Untergang bewahrt werden. Bevor sie stirbt, bekommt die Utopie ein Leuchtfeuer. Dass die sozialistischen Hoffnungen aber nicht auf immer verloren sind, erzählt eine nur skizzierte Rahmenhandlung. Da sucht einer heute nach den Filmrollen der kinematographischen Abenteurer, und er hat, wie wir alle, einen abgeklärten Blick. Dass es Mnouchkine gelingt, unseren Blick derart wieder zu verzaubern, ist das Wunder dieses Stücks. Diese kindliche Freude an greller Kolportage und gewaltiger Bastelarbeit! Dieser unerschütterliche Glaube, dass Theater alles erzählen kann, und sei es mit filmischen Mitteln!

Eberhard Spreng

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