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Oper: "Proserpina": Plötzlich Prinzessin

Balsam für die weibliche Kehle: In Schwetzingen hebt Hans Neuenfels Wolfgang Rihms neue Oper "Proserpina" aus der Taufe.

Es ist ein Bild für die Götter, die des Hades wie die des Olymps – und wenn es da unten oder oben separate Frauenabteilungen geben sollte, dann freute man sich gewiss auch dort mit, wenngleich, wie üblich, auf leisere, verstohlenere, subversive Weise. Nach knapp 70 Minuten ausgesprochen gemäßigter, zuträglich- freundlicher, regelrecht sangeslustiger Neuer Musik also steht die Sopranistin Mojca Erdmann an der Rampe des kleinen Schwetzinger Rokoko-Theaters und verbeugt sich. Der pure Liebreiz in weiblicher Gestalt (was ein bisschen das Problem dieser umjubelten Uraufführung ist). Proserpina, Tochter des Zeus und der Demeter, barfüßig am Ende und im schlichten weißen Hängerchen, als habe sie, die gnadenlos Geraubte und Entehrte, die Todeskönigin wider Willen, die Hölle gar nie gesehen.

Eingerahmt wird Erdmann von dem Komponisten Wolfgang Rihm (mit grüner Krawatte) und dem Regisseur Hans Neuenfels (mit flatterndem Schal), zwei Hünen im Geiste und von Wuchs. Mal küsst der eine ihr die Hände, mal herzt sie der andere. Zwei Meisterkünstler und ihr allerschönstes Frauenopfer. Oder auch: Lolita mit ihren großen Brüdern.

Die Frage nun, wer der Stärkere von beiden sei, der Komponist oder der Regisseur, reißt einen Horizont auf, wie man sich ihn für eine Opernuraufführung weiter, reicher und schillernder nicht wünschen könnte. Die Taten der Florentiner Camerata, jener sagenhaften Brut- und Geburtsstätte der Oper vor mehr als 400 Jahren, blitzen hier ebenso auf wie Ovids Metamorphosen oder Monteverdis früh verloren gegangene „Proserpina rapita“. Man denkt an Strawinsky (Persephone ist nichts anderes als Proserpinas griechischer Name) und mal wieder an das Wagnersche Gesamtkunstwerk und an den alten Grundsatzstreit „prima la musica, poi le parole“, der 1943 noch den greisen Richard Strauss in seinem „Capriccio“ beschäftigte.

An Goethes „Proserpina“-Monodram von 1778, das Rihm sich in seiner nunmehr achten Arbeit fürs Musiktheater zum Libretto erkoren hat, denkt man natürlich auch. Weil dieses so viel Raum für Musik gar nicht lässt, weil es im Klang und Rhythmus seiner Verse, im Prosodischen recht eigentlich selbst Musik ist oder zumindest doch musikalisch, musikalische Rede. Es habe ihn, sagt Rihm, das Dunkle und Rätselhafte dieses Textes gereizt. „Und was du suchst, liegt immer hinter dir“, heißt es eingangs bei Goethe. Ein typisches Frauenschicksal also, aus der Welt geworfen ohne Schuld und ohne jegliches Warum, verdammt, zu dienen und ein schändliches Schattendasein zu führen?

Proserpina aber – und das mag Rihms Goethe-Wahl befördert haben – wehrt sich, findet sich nicht ab damit, vom eigenen Onkel, Hades, in die Unterwelt entführt worden zu sein und vom eigenen Vater verraten und verlassen. Sie klagt und klagt an: die Willkür der Machtausübung, die Leichtfertigkeit ihres bis dahin gelebten Lebens, die Machtlosigkeit der Mutter. In mancher Version des Mythos, bei Homer zum Beispiel, lässt Demeter aus Rache an Zeus alle Natur verdorren, woraufhin Proserpina zumindest eine zeitweise Rückkehr ins Leben gestattet wird. Bei Goethe und Rihm ist das nicht so. Und bei Neuenfels, der das Ganze in der fast klinischen Helligkeit eines abstrakten Pantheons spielen lässt (Bühne Gisbert Jäkel, Kostüme Elina Schnitler), erst recht nicht.

Wände und Liegen gleiten hier lautlos herein und wieder hinaus, der Proserpinas Schicksal endgültig besiegelnde Biss in einen Granatapfel findet wie eine besonders eklige, intime Untersuchung hinter einem weißen Vorhang statt (die angebissene Frucht als blutende Vagina), und ganz am Ende beherrscht ein altertümlicher Gynäkologenstuhl die Szene: als Foltergerät und Inbegriff weiblichen Ausgeliefertseins, als Sinnbild für Tod und Geburt, Eros und Thanatos.

Theater also? Das Dichterwort? Die Musik? So unredlich es wäre, die Bestandteile dieser Uraufführung gegeneinander in Stellung zu bringen, so aufschlussreich scheint es doch, sie zu sezieren. Die Kraft des Abends nämlich resultiert ganz wesentlich daraus, dass Hans Neuenfels vor neuen Tönen keine Angst hat. Dass er ganz selbstverständlich – als handele es sich um „Aida“ oder die „Zauberflöte“ – daran festhält, dass Opernregie nur dann legitim sei, wenn sie aus der Musik heraus agiere und erst so zu dieser und für diese auch frei sei. Neuenfels hat nie irgendwelchen Vorgaben oder Vorlagen gehuldigt, sondern stets den Gedanken und dem Prozess ihrer Verkörperlichung auf der Bühne. Und Wolfgang Rihm wiederum weiß, dass seine Partitur einen solch eigenständigen, wenig linearen Zugriff aushalten muss, um wirklich zu atmen, zu leben.

Und sie hält es aus, fast zu gut, fast eine Spur zu ungerührt und undurchlässig. Flankiert wird die Besetzung dieses Monodrams für Solosopran und Frauenchor (die Sängerinnen des SWR-Vokalensembles Stuttgart als Parzen im Off) mit Piccoloflöte, Trompete und Tuba hinter der Bühne sowie durch Hörner, Holzbläser, Harfe, Schlagwerk und sechs Streicher im Graben (das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart unter Jonathan Stockhammer). Eine auch räumlich gesehen runde Sache, wenn man so will. Und auf die Frau an sich, die Möglichkeiten, die Entgrenzungen und Eingrenzungen der Frauenstimme läuft Rihms kompositorisches Oeuvre ohnehin schon länger hinaus: Ophelia (in der „Hamletmaschine“ nach Heiner Müller), Ariadne, Penthesilea oder zuletzt Anita von Scharsdorf (im „Gehege“ nach Botho Strauß) haben für Proserpina den Boden bereitet. Und jedes Mal, trügt einen der Ohrenschein nicht, gießt Wolfgang Rihm etwas mehr Balsam in die weibliche Kehle.

So übel seiner Proserpina mitgespielt wird, so katastrophisch ihre Lage, so wenig entäußert sich die Musik. Weil das Schicksal längst besiegelt ist? Weil es ums Irreversible im Leben geht, das durch keinen Glauben, keine Ideologie, keine Kunst je zu Erklärende? Wenn die Göttertochter sich an ihre Gespielinnen erinnert, wird’s bei Rihm bukolisch-blumig, im Appell an die Mutter zitiert er die Rachearie der Königin der Nacht, der Apfelbiss kommt als veritabel komponierter Orgasmus daher, Gehecheltes und Gehauchtes steht neben fein Ausgesungenem, Gesprochenes neben rhythmisch Skandiertem, mal bricht klanglich der große Tag des Zorns an, mal implodiert das Wort „Hoffnung“ im vielfachen Fortissimo. Das alles ist hervorragend durchgehört und hat zweifellos eine bewundernswerte Grazie, gerade in der Reduktion des Bestecks, mit dem Rihm hier arbeitet.

Der akademische Impetus aber, der diese Partitur durchweht, das Spätzeitliche, fast Alterswerkhafte darin, es verwirrt auch. Ein Komponist macht sich wasserdicht (vielleicht weil er heute viel verletzlicher ist als in seinen jungen, wilden Zeiten). Musik wie unter Zellophan. Auch birgt es Tücken, einer Sängerin eine Partie auf den Leib zu schreiben, wie Mozart oder Richard Strauss es getan haben, auf die Rihm sich in der glitzernden Leichtigkeit seines musikalischen Satzes gerne beruft. Gewiss, Mojca Erdmann macht ihre Sache großartig. Mit einer Virtuosität und Präzision im Umgang mit dem Notentext, einer unerschütterlichen Sicherheit in der Intonation, mit größter Flexibilität in den Sprüngen und Koloraturen.

Allein vom Typ her – und das gilt sowohl für die Stimme wie für die Person – bleibt sie doch das liebe Nymphlein, das nicht recht weiß, wie ihm geschieht. Das Blondchen, das Ännchen, die „Rosenkavalier“-Sophie, die sich ins Böse verirrt hat. Der Hass, den die gefallene Göttin Proserpina aus Kübeln verspritzt, ihre Hässlichkeit und Weltverachtung, die Dämonie einer Medea oder Kundry, das alles ist Mojca Erdmann (sympathischerweise) fremd. Indem Rihm das so und nicht anders gewollt hat, stellt sich erneut die Schicksalsfrage: Wen es trifft, ist gleichgültig, zufällig, sinnlos. Nur wen es trifft, den trifft es hart. Härter wohl, als es dem Komponisten lieb ist.

Neuenfels tut viel, um hinter die Schönheit der Musik zu gelangen und den Stoff in seiner Gewalttätigkeit zu erhören. Gesellt Proserpina drei stumme junge Kerle zur Seite, die bald in diese, bald in jene Maske männlicher Attraktivität schlüpfen und mit sexuellen Übergriffen nicht geizen. Und schickt seine Protagonistin nach dem Sündenfall konsequent in die Prostitution, mit knöchelbrecherischen High Heels und plärrenden Handtaschen und Perücken. Wenn man ehrlich ist, sagt dieses ehrliche Bild, dann fällt uns Männern zu den Waffen einer Frau bis heute nicht viel mehr ein. Nicht einmal in der Hölle.

Wieder heute sowie am 5. Mai.

Christine Lemke-Matwey

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