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Kultur: Bummler und Gestrandete Letzte Impressionen vom Literaturfestival Berlin

Elf Tage lang wanderten sie über die Bühnen des Literaturfestivals im Haus der Berliner Festspiele, die Autoren, die gerne „Wanderer zwischen den Welten“ genannt werden. Wanderer zwischen den Literaturfestivals sind sie allemal: Schon am Eröffnungsabend trat mit Ilija Trojanow der Prototyp eines solchen Weltenbummlers auf.

Elf Tage lang wanderten sie über die Bühnen des Literaturfestivals im Haus der Berliner Festspiele, die Autoren, die gerne „Wanderer zwischen den Welten“ genannt werden. Wanderer zwischen den Literaturfestivals sind sie allemal: Schon am Eröffnungsabend trat mit Ilija Trojanow der Prototyp eines solchen Weltenbummlers auf. In seinem neuen Roman „Eis Tau“, aus dem er auswendig vortrug, erzählt er vom Klimawandel. Ein Gletscherwissenschaftler betrauert den Verlust seines heimatlichen Alpengletschers und führt Journalisten in die Antarktis.

Auch Raoul Schrott ist so ein Kosmopolit, immer hat er einen Rucksack dabei. Bei seinem neuesten Projekt über die Entstehung des Kosmos, des Lebens und des Menschen habe er die ersten zehn Milliarden Jahre schon hinter sich, sagt er. Die nächsten, richtig schwierigen vier Milliarden Jahre lägen noch vor ihm. Um sie literarisch zu bewältigen, hat er sich vier Jahre gegeben. Es geht um die Undarstellbarkeit des Big Bang, um die Entstehung der ersten Lebewesen, schließlich um den unzurechnungsfähigen Fisch, der sich an Land wagte. Die Versöhnung von Wissenschaft und Poesie ist Schrotts Sisyphos-Projekt.

Nam Le, ein Erzähler vietnamesischaustralischer Herkunft, stellte seinen Band „Das Boot“ vor: kleine, intensive Sprachkunstwerke über Flüchtlinge aus aller Welt. Ein junger Autor, sichtlich interessiert an einem Gespräch über Reize und Tücken des Schreibens. Fiktion, sagt er, könne im Gegensatz zu Dokumentarliteratur auch verfemten Affekten und Ressentiments wie „Rassismus oder Homophobie die Würde des Ausdrucks“ geben.

Die kleineren Lesungen und Diskussionen auf der Seitenbühne und im Foyer waren oft gut besucht, im Großen Haus gähnten selbst bei den Hauptveranstaltungen leere Reihen. Auch Stars wie die Engländerin A.S. Byatt, die zusammen mit Julia Franck auftrat, oder die Thrillerautorin Patricia Cornwell zogen kein größeres Publikum an. Dafür gibt es viele Erklärungen, aber wohl vor allem eine: Es war von allem für alle zu viel.

Die Ereignisfülle war eine Herausforderung für das Festival, das am gestrigen Sonnabend zu Ende ging: Fukushima, der Arabische Frühling, die Schuldenkrise. Dem Thema China steckte Liao Yiwu ein Glanzlicht auf, kein Weltenbummler, sondern ein Gestrandeter. Sein Gedicht „Massaker“ über die Vorgänge auf dem Pekinger Tian’namen-Platz 1989 hatte ihn ins Gefängnis gebracht. Plötzlich sitzt da einer auf dem Podium, der glüht und erzählen will, mit einem manischen Rededrang. So fängt er wieder und wieder an: „Und dann wollte ich auch noch erzählen...“

Erstmals hatte sich das Festival an einen Schwerpunkt zur Graphic Novel gewagt. Zusammen mit dem Zeichner Jaromir 99 hat Jaroslav Rudiš „Alois Nebel“ geschaffen, eine Bahnhofswärterfigur, die in Tschechien mittlerweile Kult ist. Eigentlich war Rudiš wegen seines Romans „Grandhotel“ gekommen, der aber auch einiges mit dem „Nebel“ und dem darin enthaltenen Wort „Leben“ zu tun hat, wie Rudiš erklärt. Das Grandhotel hat die Form einer Rakete und steht am Rand der böhmischen Stadt Liberec auf einem Berg. In ihm wohnt Fleischman, dem ein „n“ seines Namens abhanden gekommen ist. Fleischman ist ein eigenbrötlerischer Wolkenliebhaber, das Hotel ist für ihn eine „Wolkenfabrik“.

Rudiš hat eine verträumte Figur geschaffen, ist aber zugleich ein Autor mit archäologischer Präzision und nennt „Grandhotel“ ein sentimentales Buch. Sympathisch vor allem die beharrliche Provinzialität seiner Figuren. Er kenne tatsächlich viele Tschechen, die es nicht über Herz brächten, die Grenzen ihrer kleinen Stadt zu überschreiten. „Grandhotel“ ist deshalb ein Lehrstück kultivierter Oblomowerei, das dem Genre des Heimatromans näher steht als jeder offensiven „Weltliteratur“. So unterscheidet sich Rudiš vom Typus des grandiosen Weltenbummlers: Er ist lieber ein Bummler. Roman Widder

Roman Widder

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