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Haus und Nest. Hier wohnt die Imker-Familie, irgendwo am mittelitalienischen Ende der Welt.

© Delphi Filmverleih

Cannes-Überraschung 2014: "Land der Wunder": Gelsomina und die Glücksfee

Gestern Demo, heute Bienenzucht: Alice Rohrwacher erzählt in ihrem hinreißenden Familienfilm "Land der Wunder" - im Mai in Cannes mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet - von den Mühen naturverbundenen Lebens. Und vom Ausstieg der Kinder aus der Eltern-Utopie.

Anfangen vielleicht mit dem Haus, obwohl es erst am Schluss ganz zu sehen ist: Eine Wand ist es gegen den Wind, mit Fensterschlitzen im oberen Stockwerk, die sich dem Wetter entgegenstemmen. Eine Festung aus Tuffstein und Terrakotta im Nirgendwo Mittelitaliens, eher eine Behausung als ein ausgewachsenes Haus für ein paar Menschen, deren Matratzen längst mit dem Fußboden verwachsen scheinen. Ein Nest, dessen Bewohner sich zusammenkauern gegen den riesigen umgebenden Raum und die Zeit, vor allem die Zeit.

Anfangs scheint es auf im Flackerlicht von Taschenlampen, es ist tiefnachts, ein Kind ist wach geworden, schon brennt Licht im Bad, andere Kinder kommen hinzu, sind umeinander, reden schläfrig und taumeln bald zurück in die Träume. Eine Familie mit vier Töchtern, es gibt einen deutschen Vater und eine italienische Mutter und eine deutsche Freundin namens Coco noch dazu. Hierhin haben sich die Aussteiger zurückgezogen vor der lauten, verblödenden Konsumgesellschaft und sind eingestiegen in die Bienenzucht, keine Hippies und keine Bauern, irgendwas dazwischen oder besser darüber; Leute mit Idealen, Prinzipien, früher anarcho, heute öko – und in einer Welt, die ihren Grund und Boden an Touristen und die industrialisierte Landwirtschaft verscherbelt, ziemlich allein.

Bienenzauber. Gelsomina (Alexandra Lungu, links) und ihre Schwester Marinella (Agnese Graziani).
Bienenzauber. Gelsomina (Alexandra Lungu, links) und ihre Schwester Marinella (Agnese Graziani).

© Delphi Filmverleih

Nur, wer ist der Haushaltsvorstand in dieser großen Familie? Der seine Kinder immer bloß grob zur Imker-Arbeit rufende Vater meint: alle! Coco, die Familienfreundin, weiß es besser: Gelsomina! Der etwa dreizehnjährigen Gelsomina, die nicht ganz zufällig heißt wie die sanfte, duldsame Gefährtin des großen Zampanò in Fellinis „La strada“, folgen die jüngeren Schwestern; mit der Bienenzucht kommt sie am besten klar, und eines Tages ist sie es, die die von Armut immer spürbarer eingezwängte gemeinschaftliche Utopie aufbricht: Ohne Wissen des Vaters meldet sie die Familie bei der TV-Show „Land der Wunder“ an, in der vorbildliche bäuerliche Kleinbetriebe einen Batzen Geld inklusive Kreuzfahrt gewinnen können.

Zufällig lernt Gelsomina die Glücksfee Milly Catena kennen, die die „Wunder“Sendung moderiert, eine Göttin zum Anfassen und bei genauerem Hinsehen vielleicht keine glückliche Frau. Aber auch auf andere Weise dringt die Draußenwelt ein: Gegen Geld einer Wohlfahrtsorganisation nimmt der Vater den kindlichen Kriminellen Martin in Pflege, und der deutsche Junge lässt, ohne dass da plakative erste Liebe wäre, Gelsomina spüren, dass es anderes gibt als den Vater, die unglückliche Mutter, die kleinen Schwestern, den gelegentlich von einstigen Kommunarden besuchten Familienclan.

Regisseurin Alice Rohrwacher, 33.
Regisseurin Alice Rohrwacher, 33.

© Delphi Filmverleih

Ist das eine Geschichte, diese vage Sammlung von Motiven? Und ob! Muss sie sauber in Erzählstränge verknotet und mit pointierten Plotwendungen erzählt werden? Keineswegs. Darf sich da einfach ein Leben vor den Augen der Zuschauer entfalten, langsam und lose in den Zusammenhängen, bis sich die vorsichtig hingebreitete Wirklichkeit in puren Zauber verwandelt, mit einem nicht besonders mittelitalienischen Kamel zum Beispiel, das eines Tages auf dem kahlen Hausvorplatz steht? Sehr.

Die Deutsch-Italienerin Alice Rohrwacher, 33, hat diesen in jeder Hinsicht außergewöhnlichen Film gedreht, ihren zweiten nach „Corpo Celeste“ (2011), der in Deutschland nicht ins Kino kam: Auch dort steht ein junges Mädchen im Mittelpunkt, das sich nach einer Kindheit im Ausland plötzlich in die kalabrische Heimat der Mutter einfinden muss. Mit „Land der Wunder“ wurde Rohrwacher, die selber in Mittelitalien aufwuchs und einiges von der Bienenzucht versteht, im Mai in den Wettbewerb von Cannes eingeladen. Prompt gewann sie dort, kein Wunder, den Großen Preis der Jury und damit sozusagen die Silberne Palme.

Rohrwachers Schauspieler sind, bis auf Monica Bellucci, die zart zurückhaltend die Glücksfee mimt, und Alices ältere Schwester Alba in Italien unbekannt, aus Deutschland kommen in kleinen Rollen Sabine Timoteo und André Hennicke hinzu. Die Hauptfigur aber, die in Italien aufgewachsene Rumänin Alexandra Lungu als Gelsomina, und Luis Huilca Logroño (Martin) sind die eigentlichen Entdeckungen dieses Films. Alles aber – auch das bezwingende Spiel des Tänzers Sam Louwick als Vater, die durchdringend diskret dem Geschehen folgende Kamera (Hélène Louvart), sogar die Figurenführung durch die Regisseurin selbst – dient einer gemeinsamen großen Erfindung: wie es hier, am Ende der Welt nahe dem Lago di Bolsena, zwischen diesen paar Menschen wirklich hätte sein können; ja, wirklich.

Dazwischen aber gibt es, sekundenkurz, Traumbilder, so schön, als seien sie von keinerlei menschlicher Fantasie hervorgebracht. Wachwerden daraus macht traurig, so traurig wie der Blick auf ein verlassenes, vergessenes Haus.

Ab Donnerstag in den Berliner Kinos Cinema Paris, FaF, Yorck; OmU im Babylon Mitte, Cinema Paris, Hackesche Höfe und Rollberg

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