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Der twitternde Kulturwissenschaftler Eric Jarosinski

© Mike Wolf

Chartbreaker bei Twitter: Ich bin ein "Berlinerd"

Deutsche Philosophie, düsterer Humor, zynische Kommentare zum Zeitgeschehen: Mit seinen Aphorismen ist der amerikanische Kulturwissenschaftler Eric Jarosinski zum Twitter-Star avanciert. Jetzt ist er zu Besuch in Berlin - und halb Mitte will ihn kennenlernen.

Manchmal sollte man, kann aber nicht. Und manchmal will man, sollte aber nicht. Geist und Fleisch und schwach und so weiter, Sie wissen schon. Selbst Wissenschaftlern geht es bisweilen so. Sie wollen und sollen denken, formulieren, Forschungsprojekte zu Ende bringen, hängen dann aber doch lieber ein bisschen im Internet rum.

So ungefähr lässt sich auch Eric Jarosinskis Dilemma beschreiben. Der Amerikaner, der gerade zu Besuch in Berlin ist, hat eine Assistenzprofessur an der University of Pennsylvania inne, er ist Germanist, Spezialgebiet: Kultur, Philosophie und Literatur der Weimarer Republik, Kritische Theorie, Adorno und Benjamin. Außerdem schreibt er über moderne Architekturdiskurse in Deutschland, vor allem über die gläsernen Neubauten der Nachwendezeit und das dazugehörige Transparenz-gleich-Demokratie-Gerede.

Im Netz nennt sich Eric Jarosinski @NeinQuarterly

Die wissenschaftliche Karriere in den USA schien vorgezeichnet, nur eine große Publikation trennte ihn noch von einer Professorenstelle. Doch irgendwas sträubte sich, das Buch wollte und wollte nicht fertig werden. Dann entdeckt Jarosinski ein Ventil, einen Ort, an dem sich seine Schreibblockaden wundersam auflösen. Er geht zu Twitter. Was dann passiert, könnte man als ungeplanten viralen Erfolg bezeichnen. Der düstere Humor von @NeinQuarterly, wie sich Jarosinski im Netz nennt, trifft beim akademischen Twitter-Publikum auf viel Gegenliebe. Rund 32.000 Menschen folgen inzwischen seinen zynischen Kommentaren zum Zeitgeschehen, seiner deutsch-englischen Wortakrobatik, seinen Anspielungen auf Philosophen. Kleine Auswahl aus den letzten Tagen: „Deutschland, fast 24 Jahre nach der Wende: ein Land, ein Volk, kein Personal. #db“; „Bahnwartender Thiel: ein bürgerliches Trauerspiel.“; „Ein Gespenst wird umgeleitet in Europa. Über Mainz.“; „Berlin-Mitte. Nachmittags. Es riecht nach Projekt-Management.“

Der Reiz seiner Twitter-Figur besteht vermutlich aus der Mischung von Distanz und Nähe, meint Jarosinski. Ein Amerikaner, der sich jahrelang mit deutscher Kultur und Literatur beschäftigt hat – bis er selbst randvoll war mit Theorie und Kanon, mit Zitaten und Aphorismen. Ein Wissensschatz, den er jetzt in tausend kleinen Twitter-Splittern wieder ausspuckt, zur Freude seiner Leser.

Der Erfolg blieb nicht unbemerkt. Große deutsche Zeitungen wollen Jarosinski als Kolumnisten verpflichten. In Berlin trifft er täglich Dutzende von Leuten, halb Mitte will ihn kennenlernen. „Ich bin ein Berlinerd“, kommentiert er lakonisch. Er sei binnen weniger Monate vom scheiternden Akademiker zum brand, zur Marke, geworden. Ganz geheuer ist ihm das nicht.

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