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Kultur: Chillen mit Tschechow

„Die Vaterlosen“: Stefan Pucher verirrt sich in der Berliner Volksbühne

Tschechow ist eine Lounge. Man setzt sich rein, weil man sonst nichts zu tun und inszenieren hat, man chillt und lässt die russische Seele baumeln. Tschechow ist die Blaupause für (fast) alles, was man wunderbar und schrecklich findet; Liebe, Karriere, Geld- und Alkoholprobleme. Leider (oder glücklicherweise) war das wohl schon immer so.

Daran liegt es auch, dass es zwar total verunglückte, aber keine absolut unerträglichen Tschechow-Inszenierungen geben kann. Weil dieser Dramatiker (fast) alles verzeiht. Und weil das Scheitern der Zeitgenossen sein Thema ist, in aller Ironie. „Platonov ist der beste Ausdruck der heutigen Orientierungslosigkeit.“ Den Satz sagt an der Volksbühne der dicke Josef Ostendorf. Er stellt hier einen „Mann mit Geld“ vor, wie es heißt. Und so sind sie alle, wie sie in ihren roten Sesseln hängen oder angenagelt an der Rampe stehen und ins Leere starren: Schemen gewesener Figuren, Chiffren heutiger Typen. Gefühlte Zeit dieser Stefan-Pucher-Installation: vier Stunden. Tatsächliche Dauer: zwei Stunden.

Hinter Puchers schlaffem TschechowVersuch steckt ein kleiner Theaterkrimi. Ursprünglich wollte er „Die Katze auf dem heißen Blechdach“ von Tennessee Williams inszenieren. Es gab Probleme mit den Aufführungsrechten, und spät erst wurde der Russe für den Amerikaner eingewechselt. Da aber auch die Schaubühne demnächst in Berlin einen „Platonov“ plant, behalf sich die Volksbühnen-Dramaturgie mit dem Titel „Die Vaterlosen – nach Tschechow“. Was kein Schaden ist, denn „Platonov“ gilt auch nur als Hilfstitel für jenes Drama, das fünfzehn Jahre nach Tschechows Tod in einem Tresor entdeckt und lange Zeit als „Stück ohne Titel“ geführt wurde. Geschrieben noch vor 1880, von einem nicht einmal zwanzigjährigen experimentierenden Autor.

Seltsame Musikauswahl in Puchers Lounge: Erst dröhnt, fies verzerrt, die alte Disco-Nummer „Stayin’ Alive“ von den Bee Gees aus den Lautsprechern. Die Bühne von Barbara Ehnes ist mit Bambus ausgelegt, billiges Pauschaltourismus-Ambiente mit Bar und falschen Wilden. Die Schauspieler – affenartige Perücken, bunte Fetischmasken – führen einen Tanz auf, und nach wenigen Minuten räumen Bühnenarbeiter den Südseezauber ab. Leere Bühne jetzt: typisch heutiger Tschechow-Playground. Die Kostümbildnerin Tabea Braun hat das Ensemble schrill clubmäßig eingekleidet, auf dem Programm stehen aber, wie schön, Songs von Bob Dylan, Leonard Cohen und Neil Young. Die wahren Klassiker. Wozu brauchen wir da noch Tschechow?

Verrückt, mit welcher Innigkeit und Sorgfalt die Akteure sich ans Mikro stellen und singen. Bettina Stucky zwitschert „I Tried To Leave You“, Lars Rudolph flötet „When The Ship Comes In“. Herzzerreißend. Für Dylans „Ballad Of A Thin Man“ legt sich eine komplette Band ins Zeug. Das sind Momente, wo man denkt: Spielt weiter! Lasst das Theater! Macht die Türen auf und holt Bier! Eine hoch besetzte Produktion, fast nur mit Gästen, aufreizend unterspielt. Nein, reizlos. Riesige Videos (von Chris Kondek) laufen auf der Rückwand, man kennt das von Pucher: die Schauspieler verdoppelt, verspiegelt, vom eigenen Über-Ich überschattet. Nichts verfängt. Was macht eigentlich Stipe Erceg hier? Steht rum, sagt was, geht wieder. Bibiana Beglau schreitet mit Würde und aasiger Eleganz lange Diagonalen ab, eine einsame Frau, die ihren Absturz antizipiert. Sie erschien nicht zum Applaus.

Keine Sexszenen. Es ist nicht mal wirklich die Rede davon. Trotzdem riecht die Atmosphäre, wenn dieser Abend überhaupt eine hat, nach „Elementarteilchen“. Das wäre vielleicht was: Tschechows orientierungslose Clowns und – vergessen wir mal die Ideologieexperimente des 20. Jahrhunderts – dann gleich die Houellebecq’schen Klone. Aber all das versendet sich sofort, man ärgert sich über blöde Kleinigkeiten. Thomas Wodianka (Platonov) irritiert mit seiner Wuschelperücke, die mehr an Wolfgang Niedecken als an den jungen, auratischen Dylan erinnert. Bei Pucher gibt’s die Sensationen, Emotionen, Assoziationen immer nur aus zweiter oder dritter Hand. Anfangs ein alter, tonloser Film: russische Intellektuelle auf dem Land, wie in Peter Steins „Sommergästen“. Verdammt lang her. Video ist hier: Verrat. Verlustanzeige. Eine Art fünfter Wand.

Pucher hat allerlei Regie-Einfälle, weil ihm im Grunde gar nichts einfällt. Vom heißen Blechdach in die cool-hilflose Verkopftheit. Am Ende müssen sie dann doch noch kraxeln – auf einer großen Schräge rutschen die Akteure über eine Projektion kriechender Leiber. Wenn gar nichts mehr hilft, das ist ja öfter zu beobachten, machen wir Tanztheater!

„Something is happening/And you don’t know what it is“: Bob Dylan mag sarkastischer erscheinen als Tschechow, doch der Befund ist der gleiche. Nenn es Orientierungslosigkeit oder das Gefühl, ein Freak zu sein unter lauter Verrückten. Zwischen Dylan, den Pucher hier genüsslich ausspielen lässt, und Tschechow liegen achtzig Jahre, und „Ballad Of A Thin Man“ ist nun auch schon vier Jahrzehnte alt. Der Unterschied zu heute: Die Kunst hat die Lust und die Kraft verloren, Lustlosigkeit und gesellschaftliche Lähmung zu beschreiben. Es gibt keine Differenz mehr zwischen Interpret/Akteur und seinem Gefühl oder Gegenstand.

Jetzt sind wir keine Elementar- , sondern Ersatzteilchen, haben den Überblick komplett verloren. Können nicht mal mehr sagen, dass wir nicht mehr durchsehen. Im Unterschied zu Tschechow ist jetzt nicht nur die Zukunft dahin, sondern auch die Vergangenheit. Pure Depression. Dafür aber ist Theater das falsche Medium. All die wunderbaren Schauspieler hängen hier ab, und wir müssen kapieren, dass dies auf keinen Fall ein wunderbarer Abend ist, sondern eine furchtbare Situation. So verlegen schien die Volksbühne nie. Dass nachher in der gut gefüllten Premierenlounge eine junge Frau fragt, was ist mit Dylan, ist er tot, setzt dem leeren Fass die Pappkrone auf.

Wieder am 16., 22. und 28. April

Rüdiger Schaper

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