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Lebensthema Mut. Claude Lanzmann, 1925 in Paris geboren.

© Catherine Hélie/Gallimard

Claude Lanzmann: "Sie haben mein Buch doch gelesen, oder?"

Claude Lanzmann spricht im Interview über Ehrlichkeit, autobiografisches Schreiben und seine Memoiren "Der patagonische Hase".

Das Berliner Regent-Hotel am frühen Nachmittag. Claude Lanzmann, fast 85 Jahre alt, hat schlecht geschlafen und ist ohnehin angeschlagen. In der Woche zuvor, heißt es, ist er in Paris schwitzend von seinem Rennrad gestiegen und hat sich erkältet. Seine Stimme knarrt leicht und lässt ihn noch ungnädiger wirken. Aber er gönnt sich keine Schwäche, und eine Blöße gibt er sich schon gar nicht. Manche Fragen beantwortet er einsilbig, bei manchen ist er kaum zu bremsen. Lanzmann – Résistancekämpfer, Weggefährte von Jean-Paul Sartre, Starjournalist, als Dokumentarfilmer durch „Shoah“ weltberühmt, Zionist – hat jeden Artikel, der über sein monumentales Erinnerungsbuch „Der patagonische Hase“ (Rowohlt, 24, 95 €) erschienen ist, genau gelesen – auch den seines Gegenübers (siehe Tagesspiegel vom 5.9.). Von Zeit zu Zeit streut er ein deutsches Wort ein.

Monsieur Lanzmann, vor gut vierzig Jahren waren Sie Gegenstand der Erinnerungen, die Simone de Beauvoir unter dem Titel „Der Lauf der Dinge“ veröffentlichte. Erinnern Sie sich noch an die Gefühle, mit denen Sie die Darstellung Ihrer eheähnlichen Beziehung lasen?

Es waren gemischte Gefühle. Ich war erfreut, und fand das Ganze zugleich etwas übereilt. Von mir spreche ich anders.

Korrigieren Sie mit Ihren Erinnerungen nun die von Simone de Beauvoir?

Nicht im Mindesten. Ich habe die Dinge einfach auf meine Art erzählt. Ich habe Hunderte von Glückwunschbriefen erhalten, sogar Liebesbriefe.

Auch von Leuten, die vorkommen?

Einige waren nicht besonders erfreut. Eigentlich wollte ich deshalb keinen Anhang mit Namensregister, weil einige sonst alles überstürzen, indem sie zuerst die Stelle nachschlagen, an der sie vorkommen und nichts anderes lesen.

Und was sagen Ihre beiden Ex-Frauen, die Schauspielerin Judith Magre und die Schriftstellerin Angelika Schrobsdorff?

Ich erzähle nur von unserem gemeinsamen Leben, nicht von dem danach. Ich bin Judith immer freundschaftlich verbunden geblieben, und Angelika, die jetzt in Berlin lebt, habe ich zwar seit einem Jahr nicht mehr gesehen. Aber alles, was ich über sie geschrieben habe, ist liebenswürdig und schmeichelhaft.

Sie nennen den „Patagonischen Hasen“ ein diskretes, ja schamhaftes Buch. Wo verläuft für Sie die Grenze zwischen dem Intimen und dem Öffentlichen?

Ich verstehe Ihre Frage nicht. Dies ist zunächst ein Buch über mein Leben – keines, das den Gesetzen des Erzählens folgt. Ich verliere etwa kein Wort über meine Feinde. Es gibt intime Momente, die vollkommen öffentlich sein können, und eine große Qualität meines Buch ist seine Ehrlichkeit. Ich habe nirgends gelogen. Es ist die Wahrheit, dass eine zentrale Frage meines Lebens die nach Mut und Feigheit ist. Ich gebe mehrere Beispiele meiner Feigheit und erzähle vieles, worauf ich gar nicht stolz bin. Sie haben das Buch doch gelesen, oder?

Ist der Claude Lanzmann dieser Erinnerungen also ein literarischer Held oder eine authentische Figur?

Warum sehen Sie da einen Unterschied? Die Figur ist absolut authentisch, und das Buch ist, entschuldigen Sie bitte, ausgezeichnet geschrieben. Natürlich gab es eine Art Transsubstantiation durch das Geschriebene. Die Leute sagen, Lanzmann, das ist ein ins Leben Verliebter, aber das ist Quatsch. Claude Lanzmann kann einfach schreiben. Es gibt Sätze von zwanzig Zeilen Länge, die es verdienen, in literarischen Handbüchern zitiert zu werden, Sätze von klassischem Zuschnitt. Dieses Buch ist ein Stück echter Literatur.

Sie haben nie Tagebuch geführt oder Aufzeichnungen gemacht. Sie mussten alles dem Gedächtnis entreißen. Sind Sie mit Ihren Erinnerungsversuchen gelegentlich auch gescheitert?

Die Dinge kehrten beim Schreiben auf sehr natürliche Weise in mein Gedächtnis zurück. Anfangs dachte ich zum Beispiel gar nicht daran, von meiner Kindheit zu erzählen. Aber die Erinnerung hat sich mir aufgedrängt. Manchmal sage ich auch, dass ich mir nicht sicher bin. Ich erzähle etwa von Medbou, einem marokkanischen General, der nach dem Putsch der Armee gegen Hassan II. füsiliert wurde. Ich habe nicht bei Google nachgesehen, wie sein Name korrekt lautet. Ich wollte ich ihn mit der ganzen Kraft und Schwäche meiner Erinnerung präsentieren. Es ist lustig, dass der englische Übersetzer meines Buches entdeckte, dass Medbou eigentlich mit einem „h“ am Ende geschrieben wird.

Vergisst man nicht auch Entscheidendes?

Vielleicht. Aber wenn ich es vergessen habe, steht es nicht im Buch. Nehmen Sie das Kapitel über meine Schwester, ich hatte noch nie über ihren Selbstmord gesprochen. Auf einmal fühlte ich mich verpflichtet, ihr ein ganzes Kapitel zu widmen und ihr ganzes Leben zu erzählen, auch wenn es schließlich nicht chronologisch wurde. Ich erzähle nicht linear.

Sie erzählen auch mit sehr unterschiedlichen Sympathien. Mich hat erstaunt, dass Sie sich so bewundernd über den Bergsteiger Heinrich Harrer äußern. Wussten Sie, dass er Oberscharführer der SS war?

Ja, aber ich bin ihm in Paris begegnet und habe ihn für einen Artikel über die Flucht des Dalai Lama aus Lhasa befragt. Für mich ist Harrer in erster Linie der Bezwinger der Eigernordwand. O.K.? Ich erinnere mich an einen ausgesprochen sympathischen Mann, der Präzeptor des Dalai Lama war. Er lehrte ihn, wie mir scheint, auch nichts Barbarisches. Außer Sie denken, dass der Dalai Lama ein Barbar ist.

Zugleich verschweigen Sie den Namen des Filmregisseurs Claude Autant-Lara. Es schien mir eine Art heimlicher Rache für sein Engagement beim rechtsextremen Front National zu sein.

Das mit Autant-Lara haben Sie falsch verstanden. Ich habe mich an seinen Namen tatsächlich nicht erinnert. Ich hätte ihn sofort googlen können, doch das hat eben damit zu tun, dass ich sage, woran ich mich erinnere, und weglasse, wo ich ins Zögern komme.

Der größte Schmerz Ihres Lebens ist der Selbstmord Ihrer Schwester Evelyne. Erinnern Sie sich mit derselben Intensität an Ihr größtes Glück?

Das ist nicht dasselbe. Und was ist das schon, das größte Glück? Ich weiß darauf keine Antwort. Das Glück ist immer schon dadurch beeinträchtigt, dass es nicht von Dauer ist.

Gibt es gestrichene Passagen, die noch in irgendwelchen Schubladen lagern?

Keine einzige. Ich bin nicht der Typ, der einfach drauflosschreibt. Ich gehöre auch nicht zu den Schriftstellern, die etwas für die Nachwelt aufbewahren. In Frankreich gibt es das Institut Mémoires de l’édition contemporaine, dem manche ihre ungedruckten Manuskripte überlassen. Ich nicht. Alles, was ich jemals geschrieben habe, ist auch veröffentlicht.

Das Schreiben dieses Buches ist nur eine Metapher – Sie haben es diktiert.

Ja, aber Sie haben in Ihrer Kritik den Fehler begangen, zu behaupten, ich hätte erst diktiert und den Text dann noch einmal überarbeitet. (Auf Deutsch) Das ist ein Irrtum. Ich saß neben meiner Assistentin Juliette Simont, die tippte, was ich sagte, und gegenüber von uns befanden sich ein Notebook und ein großer damit verbundener Bildschirm. Das Diktierte war das Geschriebene selbst. Es ist das, was ich in der Einleitung die sofortige Vergegenständlichung meines Denkens nenne.

War diese Arbeitsweise neu für Sie?

Ich habe in meinem Leben immer viel diktiert. Ich habe auch viel mit der Hand geschrieben, aber ich bin so veranlagt, dass ich nicht weitermachen kann, solange ich nicht völlig zufrieden bin. Wenn ich mit der Hand schreibe und zu krakeln anfange, nehme ich ein neues Blatt Papier. Auch die Ordnung der Kapitel hat sich nicht geändert. Ich habe ohne Plan geschrieben. Zwischen der ersten und der zweiten Seite verging fast ein Jahr. Ich hatte schon immer eine seltsame Beziehung zur Zeit und glaube nach wie vor, genügend Zeit zu haben, obwohl ich viel arbeiten muss. Ich leite eine Zeitschrift, „Les Temps Modernes“, ich muss mich mit meinen Filmen in der ganzen Welt beschäftigen, das ist echte Arbeit.

Haben Sie jemals versucht, einen Roman zu schreiben?

Nein, ich habe kein romanhaftes Vorstellungsvermögen. Aber dieses Buch ist ein Roman. Und bald veröffentliche ich eine Sammlung von Artikeln, die ich im Laufe meines Lebens geschrieben habe. Das sind alles literarische Stücke! Alles!

Heißt das, dass Sie nie auf Ihren Bruder, den Romancier und Dichter Jacques Lanzmann neidisch waren?

Nie. (Lacht) Er hat einige sehr schöne Bücher geschrieben und großartige Chansons. Er hat insgesamt aber zu viel veröffentlicht; und nicht alles ist gut. Aber vom ersten Buch meines Bruders, „La glace est rompue“, das er mir als Manuskript geschickt hatte, war ich ergriffen, obwohl so viele syntaktische und grammatische Fehler darin waren. Er konnte wegen des Krieges ja nie studieren. Ich zeigte das Manuskript Sartre, der es gleichfalls großartig fand. Wir haben es dann redigiert, damit es veröffentlicht werden konnte.

Ihr Buch beginnt mit einem Hinweis auf die krankhafte Angst vor der Guillotine, die Sie ein Leben lang geplagt hat. Haben Sie nie an eine Therapie gedacht?

Niemals, nein. Man hat mir zwar gelegentlich geraten: Sie sollten eine Psychoanalyse machen, um herauszufinden, warum Sie solche Angst haben, es ist vielleicht Kastrationsangst. Aber hören Sie mir damit auf: Das ist doch Blödsinn.

Das Gespräch führte Gregor Dotzauer.

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