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Kultur: "Coming Apart": Sex, Lügen und eine Kamera

Am liebsten möchte man seitenweise zitieren, aus den Schauspieler-Biografien im Presseheft. Eine verrückter als die andere.

Am liebsten möchte man seitenweise zitieren, aus den Schauspieler-Biografien im Presseheft. Eine verrückter als die andere. Rip Torn, der Beatnik unter Amerikas Kinostars, studierte bei Lee Strasberg und Martha Graham, spielte unter Richard Brooks, verkörperte Henry Miller und Richard Nixon und war mal mit Steve McQueen, mal mit David Bowie, mal mit Paul Simon auf der Leinwand zu sehen. Was für Namen!

Oder Viveca Lindfors, die Schwedin in Hollywood. Erst war sie mit Don Siegel und dann mit George Tabori verheiratet, spielte in den Vierzigern und Fünfzigern mit Ronald Reagan, Charlton Heston und Errol Flynn, tourte in den Siebzigern mit einer One-Woman-Show durch die Welt. Oder Sally Kirkland: Auch ihre Karriere begann im Kreis von Andy Warhol, zuletzt war sie in "EdTV" zu sehen, als Mutter des Titelhelden. Einen Teil ihrer Gage hat sie dazu benutzt, um sich ihre Brustimplantate wieder entfernen zu lassen. Was für Geschichten!

Noch schöner sind die des New Yorker Underground-Regisseurs Milton Moses Ginsberg selbst. Anlässlich der Wiederentdeckung seines seinerzeit geächteten Schwarz-Weiß-Films von 1969 in einer Retrospektive des Museum of Modern Art gestand er vor drei Jahren, er hätte sich damals in eine junge Lehrerin verliebt, die aussah wie Monica Vitti. Er verließ sie, brach zusammen und ertrug es nicht, als sie mit ihrem neuen Verlobten von der Straße auf seine Wohnung deutete und lachte. "Also zog ich in das Gebäude, in dem sie wohnten, um einen Film zu machen - über einen Typ, der in das Gebäude seiner Ex-Freundin zieht, um einen Film darüber zu machen ... Jede Episode bezieht sich auf meine eigene sexuelle Neugier, Paranoia und Verzweiflung. Vor 30 Jahren filmte ich ein Porträt meiner selbst, so erschreckend intim, dass ich es immer noch unerträglich finde."

Erschreckend intim: Rip Torn spielt den Psychiater und Playboy Dr. Joe Glazer. Er plaziert eine Kamera vor seiner Couch, hinter der ein riesiger Spiegel hängt. Er sitzt auf der Couch und empfängt Frauen. Die Masochistin, die ihn bittet, Zigaretten auf ihrer Brust auszudrücken. Das blutjunge Model von nebenan, ein Nymphchen mit Baby im Kinderwagen. Wahlkampfhelferinnen von Eugene McCarthy. Ex-Freundinnen. Patientinnen. Sally Kirkland, die sich auszieht. Alle stürzen sich auf Joe. Bis der Spiegel - nach einer Orgie mit Rockmusik, Joints und Pistole - in tausend Stücke zerspringt.

Sex, Lügen und eine Kamera, die sich nicht bewegt. Sie zeigt nur, was vor und im Spiegel zu sehen ist: ein Zimmer mit Aussicht auf die Straßen von New York. Die doppelte Wirklichkeit - Cinema vérité als Installation. Narzissmus und Gewalt, Promiskuität und Einsamkeit, Liebesspiel und Beziehungskrise, Perverses und Langeweile. Geschlechterkampf mit Schwarzblenden dazwischen. Die Sixties, eingekapselt wie in der Zauberkugel einer Wahrsagerin. Das Ganze sieht ungefähr so aus, als hätten Ozu, Cassavetes und Andy Warhol gemeinsam eine Folge von "Big Brother" gedreht.

Alle dürfen alles, aber keiner kriegt, was er will. Die geradezu unverschämte Freiheit, die sich der Cutter und Kameramann Ginsberg in seinem ersten Spielfilm nahm (auch zwei spätere Versuche brachten ihm keinen Erfolg), steht in seltsamem Kontrast zur klaustrophobischen Enge des Zimmers als einzigem Schauplatz. Und doch entsteht mitten in diesen verwegen künstlichen Improvisationen ein zarter Realismus. Wenn zwei sich anfassen, nervös, ungeduldig, befangen, wie Kinder, die es zum ersten Mal tun. Die sich küssen, weil es Spaß macht und nicht, weil ein Kuss ein Liebesbeweis ist.

Der Sex ist wieder Thema im Kino, man denke an "Baise moi", "Too Much Flesh" oder an "Intimacy". Wie er aussah, damals, vor Aids, als die Sexualität gerade befreit wurde - davon kann man sich in "Coming Apart" ein Bild machen.

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