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Der US-Schriftsteller Cormac McCarthy

© picture alliance / dpa

Cormac McCarthy: "Ein Kind Gottes": Einer von uns

Erst jetzt auf Deutsch, ohne dass ihm die lange Zeit etwas anhaben konnte: Cormac McCarthys finsterer Nekrophilen-Roman „Ein Kind Gottes“ von 1974.

Ob Lester Ballard wirklich bloß einer von vielen ist, einer von uns? Als kleines, unsauberes, unrasiertes Männchen, das sich mit einer „ungezwungenen Verbissenheit“ bewegt, so stellt Cormac McCarthy den Helden seines Romans „Ein Kind Gottes“ vor. Und konstatiert, fast nebenbei: „Vielleicht ein Kind Gottes ganz wie man selbst“. Das allerdings würde man im Verlauf der Lektüre nur noch mit schmerzverzerrtem Gesicht unterschreiben wollen, entwickelt sich Ballard doch zu einem grausamen, gottlosen Monster: zu einem nekrophilen Serienmörder.

Zunächst jedoch scheint Ballard wirklich nur zu der Vielzahl geschundener, verzweifelter und einsamer Menschen zu gehören, die Amerika im Allgemeinen und die Romane des 81-jährigen amerikanischen Schriftstellers Cormac McCarthy im Besonderen bevölkern. McCarthys Held muss die Farm, auf der er aufgewachsen ist und immer noch lebt, verlassen, sie wird versteigert – so beginnt der in den sechziger Jahren in Sevier County, einem Bezirk des US-Bundesstaats Tennessee, angesiedelte Roman. Das Schicksal nimmt seinen Lauf, als Ballard sich wehrt und niedergeschlagen wird, was einer der Bewohner von Sevier County mit den Worten kommentiert: „Hinterher hat Lester Ballard den Kopf nie mehr richtig gerade halten können.“

McCarthys Held ist mehr ein Kind des Teufels als von Gott

Ballard findet daraufhin zuerst in einem verwahrlosten Zwei-Zimmer-Häuschen mit Außenklo Unterschlupf. Als er es aus Versehen abfackelt, landet er mit seinen paar Habseligkeiten in den Wäldern und Höhlen der Umgebung. Thoreau und sein „Walden“ lassen grüßen, aber in einer finsteren, gegenläufigen Variante. Ballard wird zu einem Outlaw, und den spärlichen Kontakt, den er mit seinesgleichen hat, dem White Trash von Tennessee, mit dem Whiskeybrenner Fred Kirby oder dem Müllhaldenbesitzer Reubel, dessen Frau und deren neun Töchtern, dieser Kontakt eignet sich nicht, ihn der Zivilisation wieder zuzuführen. Trotzdem: Lester Ballard ist ein Liebe- und Sexsuchender, weiß aber nicht, wie man sich dem anderen Geschlecht anders als aggressiv nähern soll. Er lauert Liebespärchen auf einsamen Parkplätzen auf, bringt sie um und macht die toten Frauen zu seinen Geliebten.

In seiner späten Ausprägung erinnert dieses Kind des Teufels an den psychopathischen Auftragsmörder Chigurh aus McCarthys 2005 erschienenem und von den Coen-Brüdern verfilmtem McCarthyRoman „No Country For Old Men“, Ballard scheint ein Mörder „without a cause“ zu sein. McCarthy verzichtet ähnlich wie bei Chigurh auch in „Ein Kind Gottes“ darauf, die Beweggründe seines Heldens zu erforschen, dafür fehlen diesem die geistigen Mittel. Fragen nach Schuld und Sühne, nach Recht und Gerechtigkeit werden hier nicht gestellt. Trotzdem erstellt McCarthy annäherungsweise ein Psychogramm seines Heldens, eines, das tief in dessen Herkunft wurzelt: Die Leute aus Sevier County, die mit ihren Schilderungen den auktorialen Erzähllauf in kurzen Einschüben immer mal wieder unterbrechen, erzählen, dass Ballards Mutter früh abgehauen ist, der kleine Lester den Vater von dem Strick abschneiden musste, an dem dieser sich erhängt hatte, und der Höhlenmensch sowieso von früh an diesen Hang zur Gewalttätigkeit hatte.

„Ein Kind Gottes“ besteht dabei gerade in seiner ersten Hälfte mehr aus einzelnen Szenen als einer durchgängigen Geschichte. Erstaunlich ist, wie Cormac McCarthy sich mit diesem Roman schon auf der Höhe seines Könnens und inmitten seiner für ihn typischen, auf das Kaputte, das Böse, das ewig Anarchische der Menschheit abzielenden Stoffe befindet: „Ein Kind Gottes“ erschien 1974, es ist McCarthys dritter Roman nach seinem Debüt „The Orchard Keeper“ (der noch einer deutschen Übersetzung harrt) und „Draußen im Dunkel“. Dass er jetzt endlich ins Deutsche übertragen und zumindest als Taschenbuch veröffentlicht wurde, verdankt sich womöglich (wie bei „No Country For Old Men“) erneut einer Verfilmung. James Franco hat den Roman 2013 fürs Kino adaptiert, ziemlich originalgetreu im Übrigen, ein Film, den es allerdings hierzulande nur auf DVD gibt.

Bewundernswert ist, dass diese lange Zeit dem Roman nichts ausgemacht hat: Die Zeit und die damalige Gegenwart spielen keine Rolle. Sparsam mit Dialogen umgehend, wie in seinen nachfolgenden Romanen, ist McCarthy vor allem an den jeweiligen Verrichtungen seines Gotteskindes interessiert. Scheinbar empathielos porträtiert er Ballard und begleitet ihn durch einen harten Winter und einen unschönen, von einem schlimmen Hochwasser gezeichneten Frühling. Das an ein Rumpelstilzchen gemahnende Männlein kämpft mit sich, den Naturgewalten und schließlich wieder mit seiner Umwelt, die ihm auf Spur ist. „Glauben Sie, die Menschen waren damals schlechter als heute?“, fragt einmal der Sheriff von Sevier County und erhält die Antwort: „Nein (...), glaube ich nicht. Ich glaube, die Menschen sind immer die Gleichen gewesen, seit Gott den ersten geschaffen hat.“ Das erklärt zwar nicht die regellose Brutalität. Am Ende, als Ballard erst in der Psychiatrie und schließlich auf den kalten Seziertischen der Pathologie landet, ist man dennoch merkwürdig berührt.

Cormac McCarthy: Ein Kind Gottes. Roman. Aus dem Amerikanischen von Nikolaus Stingl. Rowohlt Verlag, Reinbek 2014 (Paperback). 192 Seiten, 12,99 €.

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