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Kultur: „Da ist eine tiefe Angst in mir“

Flüchten und Schreiben: Judith Kerr über ihre Familie, über Alpträume und wie man sie vertreibt

Frau Kerr, Sie sind zum ersten Mal seit zehn Jahren wieder bei der Verleihung des Schauspielerpreises in Berlin, den Sie zu Ehren Ihres Vaters, des großen Theaterkritikers Alfred Kerr, gestiftet haben.

Mein Mann war lange krank, so dass ich nicht reisen konnte. Im letzten Jahr ist er gestorben. Kurioserweise war er derjenige, der mich und meinen Bruder Michael auf die Idee dieses Preises brachte. Leider haben er und mein Vater sich nie kennengelernt.

Ihre Romantrilogie beginnt mit dem Band „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“ und erzählt von Anna, einem jüdischen Mädchen, das 1933 mit seiner Familie vor den Nazis aus Deutschland flieht. Wieviel davon ist autobiografisch, wieviel fiktiv?

Die Romane sind meine Lebensgeschichte. Manchmal wusste ich allerdings nur noch, dass etwas Bestimmtes passiert war, aber nicht mehr, was genau wir dabei gesprochen haben. Das habe ich dann erfunden. Aber ich habe alles so wahrhaftig aufgeschrieben, wie es mir möglich war.

Wie haben Sie die Erinnerungen an diese Zeit hervorgeholt?

Wenn man erst einmal anfängt nachzudenken, ist es so, als gehe man in einen Raum, und plötzlich füllt er sich. Mitunter reicht ein einziges Stichwort. In „Warten auf den Frieden“ schreibe ich über diese strickenden Frauen...

. . . die Soldaten mit Kleidung versorgt haben und bei denen Sie arbeiteten...

... und da habe ich einfach an eine von ihnen gedacht, Mrs. Merril, und allein durch ihren Namen war alles wieder da. Obgleich Erinnerungen auch trügen können. Mein Bruder Michael meinte sich gerade an all jene Sachen zu erinnern, die ich erfunden hatte.

Was gab den Anstoß, diese Romane zu schreiben?

Eigentlich war das dieser schreckliche Film „The Sound of Music“, in dem die Familie Trapp singend vor den Nazis flüchtet. Den sahen mein Mann, meine Kinder und ich im Kino, und auf dem Weg nach Hause sagte mein siebenjähriger Sohn Matthew sehr zufrieden: „Nun wissen wir, wie es war, als Mami ein kleines Mädchen war.“ Und ich dachte: „Ich muss ihnen erzählen, wie es wirklich war.“ Das war der Grund. Ohne diese Kindheit und Jugend hätte ich die drei Romane nie geschrieben. Danach habe ich versucht, einen fiktiven Roman zu schreiben, es aber wieder aufgegeben. Es fehlte einfach das Gefühl, dass es unbedingt nötig sei, das niederzuschreiben.

Wie haben Sie den Prozess des Schreibens empfunden?

Das war ein unglaublicher Sprung jeden Tag: Morgens ging ich in mein Zimmer oben in unserem Haus, dachte an meine Kindheit und wurde wieder zur Kleinsten in einer Familie von Vieren. Und mittags ging ich hinunter, und da war ich die Mutter in einer Familie von Vieren.

Sie sind 1936 nach England emigriert. In „Warten auf den Frieden“ kommt das Land anfangs nicht besonders gut weg: Sie schreiben, dass mit England der Babyspeck und die Schüchternheit kamen.

Ich dachte erst wirklich, das hänge mit England zusammen, aber es hatte wohl einfach damit zu tun, dass ich dreizehn wurde. Bis dahin hatte ich gedacht, nur ich sähe die Welt und die anderen Menschen, und plötzlich fiel mir auf, dass sie mich ja auch sehen, und da wurde ich ganz scheu. Mein Bruder dagegen war gleich im siebten Himmel in England, hatte viele Freunde, spielte Hockey und hat ein Stipendium bekommen. Und ich dachte mir: Warum kann ich das nicht?

Was sich durch Ihre Bücher zieht, ist Annas Verantwortungsgefühl für die Eltern. Sogar die Alpträume will Anna ihrem Vater abnehmen.

Das war wirklich so. In Paris schliefen wir direkt neben unseren Eltern, und ich hörte, wie mein Vater nachts aufschreckte, wenn er wieder von der Flucht aus Deutschland träumte. Da bat ich Gott, mir die schlechten Träume zu schicken, und gleich als ich den ersten hatte, hörten die meines Vaters auf. Als Erwachsene träumte ich oft, dass ich meinen Mann nicht mehr finde. Da ist eine tiefe Angst in mir, Dinge und Menschen zu verlieren. Selbst jetzt, wenn ich woanders bin wie hier in Berlin, habe ich ein wenig Angst, nicht wieder nach Hause zu kommen. Wahrscheinlich weil wir damals nicht nach Deutschland zurückgekehrt sind.

In ihrem kindlichen Empfinden wird Anna auch von Schuldgefühlen geplagt.

Ja, ich hatte mitunter das Gefühl, dass wir den Ländern, in die wir kommen, Unglück bringen. Vor allem als Paris, das ich so liebte, genau an dem Tag fiel, als ich Geburtstag hatte, habe ich das mit mir in Verbindung gebracht. Heute weiß ich natürlich, dass das nicht stimmte, dass die Welt in diesen Jahren einfach immer schlimmer wurde durch die Nazis.

Bis zur Flucht ist sich Anna gar nicht bewusst, dass sie Jüdin ist. Später sagt ihr der Vater, es würden so viele schreckliche Sachen über Juden gesagt, dass sie sich besonders anstrengen solle, um das zu widerlegen. Haben Sie das so empfunden?

Dieses Gefühl, dass man sich eigentlich noch besser benehmen muss als andere Menschen, war etwas sehr Tiefgehendes. Bernard Levin, ein wunderbarer Kritiker, der ein bisschen der Alfred Kerr von London war, hat einmal gesagt, dass er vor allem dann Jude sei, wenn er höre, dass ein anderer Jude etwas Schlechtes gemacht habe. Das deprimierte ihn immer schrecklich. Der Holocaust spielte natürlich auch eine Rolle: Da hatte man ein Leben, für das die Millionen Menschen, die umgebracht worden waren, alles gegeben hätten – einfach um ein paar Tage davon abzubekommen.

In einem seiner letzten Briefe an Sie schrieb Alfred Kerr: „Du musst glücklich sein.“ Sie selbst haben einmal gesagt, Ihr Vater habe ein größeres Talent zum Glücklichsein als Ihre Mutter in sich getragen.

Meine Mutter hatte das schlimmste Schicksal von uns Vieren. Als wir aus Deutschland weggingen, war mein Vater ja schon 65 Jahre alt, ein sehr schönes und volles Leben lag hinter ihm, meine Mutter war dagegen erst 35 Jahre alt, für sie fing alles erst an. Sie hat mir einmal erzählt, dass sie dachte, mein Vater würde sich um alles kümmern, als sie weggingen. Schließlich war er 30 Jahre älter und ein berühmter Mann, aber das konnte er nicht, und damit hatte sie nicht gerechnet.

Jahre nach dem Tod Ihres Vaters hat Ihre Mutter versucht, sich das Leben zu nehmen, Sie beschreiben das in „Eine Art Familientreffen“, dem letzten Roman der Trilogie. Darin heißt es, dass die Tochter das Gefühl hatte, der Mutter einen Grund zum Weiterleben geben zu müssen.

Mein erster Gedanke war: Das hat sie gemacht, weil ich nicht oft genug geschrieben habe. Natürlich war das unsinnig, aber durch unsere Flucht kehrten sich die Rollen in unserer Familie etwas um. Mein Bruder und ich, wir wurden Engländer, wir gehörten dazu und meine Eltern nicht. Wir wussten Bescheid und sie nicht.

Nachdem Sie Kindheit und Jugend in der Roman-Trilogie verarbeitet hatten, fingen Sie an, Kinderbücher zu schreiben und auch selbst zu illustrieren.

Ich habe schon, als ich in Berlin zur Schule ging, Gedichte geschrieben und kleine Zeichnungen gemacht. Mein Meisterstück war das Gedicht über einen Brand, in dem ein Feuerwehrmann versucht, ein Kind zu retten. Die letzten Zeilen gingen so: „Da fällt die Leiter in tausend Trümmer/im Sprung hat der Mann noch immer/Das Kind an sich gedrückt/und Gott sei Dank, der Sprung ist geglückt.“ In all meinen Gedichten damals ging es um Unglücksfälle. Aber es ging stets gut aus.

Das Gespräch führte Verena Friederike Hasel.

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