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Martin-Luther-Straße in Schöneberg: Der sechsspurige Ausbau der Martin-Luther-Straße geht auf die Tabula-rasa-Situation nach dem Krieg zurück.

© Doris Spiekermann-Klaas

Berliner Lebensadern (5): Martin-Luther-Straße: Darauf ein Erwachsenenbier

Straßen erzählen Geschichten. Stadtgeschichten, Kiezgeschichten, Lebensgeschichten. In unserer Serie folgen wir den Lebensadern Berlins. Die Martin-Luther-Straße erinnert an den Traum vom autogerechten West-Berlin

Straßen erzählen Geschichten. Stadtgeschichten, Kiezgeschichten, Lebensgeschichten. In unserer Serie folgen wir den Lebensadern Berlins.

Die Martin-Luther-Straße kann man schon von Weitem erkennen. Tag und Nacht, selbst mit geschlossenen Augen. Erst ist es nur ein Rauschen, die eigentümlich gleichbleibende Brandung der Großstadt. Dann, je näher man kommt, schält sich das Röhren der Motoren und das Rattern der Räder heraus. Wenn das Straßennetz ein Adernsystem ist, das Energie in den urbanen Organismus pumpt, dann herrscht hier fast immer Bluthochdruck. Besonders groß ist der Druck am Morgen und am späten Nachmittag. Viele Autofahrer halten sich nicht an die Höchstgeschwindigkeit, überholt wird gerne auch rechts und auf der Busspur. Dass der Schulweg manchen Erstklässlers der Löckwitz- und der Scharmützelsee-Schule die sechsspurige Trasse kreuzt, stört nicht weiter.

Auf zweieinhalb Kilometern führt die Martin-Luther-Straße vom Innsbrucker Platz bis zur Urania und schneidet dabei mitten durch Schöneberg. Sie verknüpft die Stadtautobahn mit der West-City und dem Tiergarten und gilt im Behördenjargon als „überbezirkliche Hauptverbindungsstraße“. Heute ist sie vor allem das asphaltgewordene, abgasumwölkte Denkmal für den Traum vom Ausbau West-Berlins zur autogerechten Stadt. Ein Traum, der längst zum Alptraum wurde. Einige Tagesspiegel-Schlagzeilen aus den Jahren 1962 bis 1978: „Wo die Straßenbahn fuhr, soll Platz für den Autoverkehr geschaffen werden“, „Nach Abräumung weiterer Ausbau der Martin-Luther-Straße“, „Freie Fahrt durch die breitere Martin-Luther-Straße.“

Freie Fahrt für freie Bürger, dieses Mobilitätsversprechen des Nachkriegskapitalismus hat sich hier bis heute nicht erfüllt. An ihrem südlichen Ende, dort wo die Martin-Luther-Straße noch vierspurig aus der Hauptstraße entspringt, staut sich der Mittagsverkehr an einem normalen Werktag nach Rotphasen über zwei komplette Wohnblöcke bis zur Heylstraße. Karossen schieben sich an Genossenschaftsbauten, Antiquariaten, dem Hundesalon „Terrier & Co.“ und dem Berlin-typischen Kleingewerbe von Klempnern und Glasern vorbei. Ihre besseren Tage hat die Gegend hinter sich. Das Ladenlokal von „Gross in Kleinmöbel“ ist leergeräumt und wartet auf einen neuen Mieter. Schmutzig graue Patina liegt über den bronzenen „Aufbau“-Plaketten mit dem Berliner Bären, die an die Wohnungsprogramme des Senats in den späten vierziger und fünfziger Jahren erinnern.

Über dem Schöneberger Rathaus – an der Kreuzung mit der Dominicusstraße ist die Martin-Luther-Straße inzwischen auf sechs Spuren angeschwollen – scheinen noch immer pathetische, stockend gesprochene Worte zu hängen: „Ick bin ä Bärlina.“ Damals, am 26. Juni 1963, hatten sich anderthalb Millionen Insel-Berliner auf dem Rudolph-Wilde-Platz und den umliegenden Straßen versammelt, um dem Präsidenten zu lauschen. Heute offeriert der „Kennedy-Grill“ täglich 23 Stunden lang „Kroatische & Internationale Küche“, das „Kleine Schnitzel Wiener Art“ schon für 9,80 und die „Große Puszta-Platte“ für 8,60 Euro. Gegenüber erzählt der Lufthansa-Schriftzug eines Reisebüros von der strahlenden Markenwelt der alten Bundesrepublik.

„Es sah aus wie das Weltende. Trümmer, Trümmer, Trümmer, Berlin lag in Asche“, notierte Billy Wilder, nachdem er im Herbst 1945 in einem Flugzeug der US-Army in Berlin gelandet war. Besonders viele alliierte Kriegsbomben waren in Schöneberg explodiert. Sechs Millionen Kubikmeter Schutt lagen nach der Kapitulation auf den Straßen und Ruinengrundstücken des Stadtteils. Die Bibliothek des Schöneberg-Museums verwahrt einen „Schadensplan“, auf dem das Amt für Bau- und Wohnungswesen im Oktober 1947 den Zustand jedes einzelnen Gebäudes im Bezirk festgehalten hat. Häuser mit „leichten Schäden von 0-15 %“ sind schwarz, die mit „schweren Schäden von 51-100 %“ grauweiß markiert.

Während der östliche Teil Schönebergs um Akazienkiez, Kaiser-Wilhelm-Platz und die sogenannte „Rote Insel“ noch relativ glimpflich davongekommen war, fielen die Zerstörungen am Bayerischen Platz im Westen deutlich gravierender aus. Dort waren etliche Häuserblöcke komplett ausradiert. Auf der Schadenskarte ist die untere und mittlere Martin-Luther-Straße noch mit einigen schwarzen Gebäuden, darunter das Rathaus, gesprenkelt, nach oben wird die Darstellung immer heller, die Zerstörung umso größer. Angeblich geriet das Bayerische Viertel ins Fadenkreuz der amerikanischen und britischen Bomberflotten, weil nach 1933 viele Nationalsozialisten in die begehrten Komfortwohnungen aus der späten Kaiserzeit gezogen waren. Sie verdrängten jüdische Familien, die ins Exil gezwungen oder ermordet wurden. Wissenschaftlich belegen lässt sich diese Theorie allerdings nicht.

So konnten die Stadtplaner die Tabula-rasa-Situation nach dem Krieg für großzügige Neuentwürfe nach amerikanischem Vorbild nutzen. West-Berlin sollte mit großen Durchgangsstraßen überzogen werden, auch das Autobahnkreuz am Innsbrucker Platz geht auf die Verkehrspolitik der fünfziger Jahre zurück. Dabei spottete Erich Kästner schon damals, man lebe nun in einem „motorisierten Biedermeier“. Am Bayerischen Platz wurde das alte Straßennetz nur teilweise wiederhergestellt, die Speyerer Straße, als „störende Diagonalverbindung“ abgetan, verschwand größtenteils. Als der wieder aufgebaute Platz 1958 eingeweiht wurde, jubelte das Lokalblatt „Der Neue Westen“: „Nicht wiederzuerkennen“ und lobte den neuen „Parkhafen“ als „Krönung der Moderne“.

Ironischerweise gingen die „Enttrümmerung“ und die Schaffung von dringend benötigtem Wohnraum Hand in Hand mit dem Abriss von Mietshäusern für den Straßenbau. Nichts sollte dem Fortschritt im Weg stehen. Für einen möglichst reibungslosen Autoverkehr wurde sogar an Hochstraßen gedacht. Die erste Berliner Hochstraße sollte von der Bayreuther Straße in Schöneberg bis zum Görlitzer Park in Kreuzberg führen. Erst der Ölpreisschock von 1973 warf das ambitionierte Vorhaben über den Haufen.

Erstaunlich, dass sich an der verkehrumtosten Martin-Luther-Straße trotzdem ein paar Inseln einer Beinahe-Idylle entwickeln konnten. Am Ritterspielplatz auf dem Wartburgplatz, der seinen Spitznamen einer großen hölzernen Kletterburg verdankt, lagern Familien und Kita-Gruppen unter alten Bäumen. An der Ecke Grunewaldstraße wachsen kleine Palmen und langstielige Blumen in Betonkübeln, der beeindruckend wuchernde Biergarten gehört zur Tag- und Nacht-Kaschemme „Joschi“. Zwei Miniaturspringbrunnen kommen mit ihrem Plätschern nicht an gegen den Verkehrslärm.

„Na, mein Dickerchen, noch ein Erwachsenenbier?“, fragt die Bedienung einen Stammgast. Erwachsenenbier, muss man wissen, ist hier der Halbliterhumpen. Ältere Ehepaare, Rollatorenfahrer und Zigarilloschmaucher genießen den sonnigen Nachmittag bei Hefeweizen oder Herrengedeck. Das nur einige Querstraßen entfernte Szene-Schöneberg mit Nachtlebeninstitutionen wie dem Café M oder Mister Hu ist ganz weit weg.

Radwege, urteilte die Zeitung „Der Neue Westen“ 1956, seien bald überflüssig, „wenn die Straßen so angelegt werden, dass sie den Verkehrsansprüchen der kommenden Jahrzehnte genügen“. Kurz vor der Motzstraße blockieren Streifenwagen die Martin-Luther-Straße. Ein Fahrrad mit verbogener Gabel liegt neben einem PKW. Der Radfahrer, vom Schock gezeichnet, sitzt auf dem Grünstreifen. Er ist noch mal davongekommen.

Bisher erschienen: Oranienstraße (13.), Motzstraße (16.), Schiffbauerdamm (20.), Bergmannstraße (23.7.)

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