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Kultur: Das 1970 erschienene Album "Stone Flower" von Antonio Carlos Jobim ist ein Wunderwerk an rhythmischer Komplexität

Es soll ja immer noch Menschen geben, die Vinylplatten der Sphäre des Profanen zuschreiben. Diejenigen, die die Welt aus diesem verengten Blickwinkel heraus wahrnehmen, müsssen vielleicht einmal einen Blick nach Wien werfen, genauer gesagt in das Wohnzimmer von Richard Dorfmeister.

Es soll ja immer noch Menschen geben, die Vinylplatten der Sphäre des Profanen zuschreiben. Diejenigen, die die Welt aus diesem verengten Blickwinkel heraus wahrnehmen, müsssen vielleicht einmal einen Blick nach Wien werfen, genauer gesagt in das Wohnzimmer von Richard Dorfmeister. Dort erhebt sich auf einem Mauervorsprung direkt neben dem Studio, in dem sich Dorfmeister und sein Partner Peter Kruder an der Zukunft der avancierten Clubmusik abarbeiten, eine liebevoll ausgestattete, schreinartige Konstruktion. Zentraler Bestandteil dieses ausgesprochen magischen Ortes ist eine Vinylausgabe des Albums "Stone Flower" von Antonio Carlos Jobim. Darauf sieht man den leicht verfremdeten Schattenriß eines distinguierten Mannes in seinen mittleren Jahren. Gedankenverloren und voll lässiger Eleganz zieht dieser Mann an einer Zigarette und lässt deren Rauch langsam und kunstvoll durch den Mund wieder austreten. Ein Bild wie aus einer Helmut Lang-Kampagne. Ein Bild, das erklärt, warum Antonio Carlos Jobim, genannt Tom, auch am Ende des Jahrhunderts noch immer das verkörpert, was er vermutlich schon immer gewesen ist: eine Ikone des internationalen Hipstertums.

Debussy, Ravel, der brasilianische Komponist Heitor Villa Lobos, der deutsche Schoenberg sowie Jobim-Verehrer Hans Joachim Koellreutter, sein Klavierlehrer. Das waren die Lehrmeister, unter deren Einfluß Antonio Carlos Jobim Mitte der Fünfziger Jahre Elemente aus der reichhaltigen brasilianischen Musikgeschichte mit amerikanischem Cool Jazz verknüpfte. Zusammen mit dem Texter Vinicius de Moraes hatte der Mann aus Rio de Janeiro damit den Bossa Nova erfunden, den "neuen Stil". Der Erfolg seiner Komposition "The Girl from Ipanema" machte ihn dann Anfang der Sechziger endgültig zu einem internationalen Star.

"Stone Flower" erschien fast 15 Jahre nach der Geburtsstunde des Bossa Nova und enthält keinen einzigen der zahllosen Jobim-Standards. Trotzdem ist sie seine beste und ausgereifteste Platte. Sie entstand zu einem Zeitpunkt, an dem die Symbolfabrik Jobim sowohl formal als auch inhaltlich auf Hochtouren lief. Zusammen mit dem Arrangeur Eumir Deodato, der später in der Disco-Ära einen zweiten Frühling erleben sollte, entwarf der ehemalige Architekt hier ein vorwiegend instrumentales Album, in dem sich alle Zeichen seiner Kunst exemplarisch verdichten. "Stone Flower" ist ein Wunderwerk an rhythmischer Komplexität und harmonischem Reichtum.

Diese Platte markiert den Punkt, an dem sich Jobims natürliches Gespür für Stil, seine klassischen Vorlieben, die kompositorische Frische des Bossa Nova und die Improvisationsfreude des Jazz in einer fast perfekten Balance befinden. Gleichzeitig stellt "Stone Flower" aber auch eine stilistische Gratwanderung dar und verläuft ziemlich exakt entlang der Wasserscheide, an der Sophistication und Eleganz in Blasiertheit und Dekadenz übergehen. Pure Schönheit kurz vor dem ästhetischen Zusammenbruch. Zwei Jahre danach nahm Jobim in Las Vegas Platten mit Frank Sinatra auf und gefiel sich darin, auf Jet Set Parties den Lebemann heraushängen zu lassen.

"Stone Flower" ist momentan in Deutschland nur als CD erhältlich. Die rare Vinylausgabe mit dem edlen Klappcover steht ab und an verloren auf Second Hand Märkten herum. Die Suche danach kann mehrere Jahre in Anspruch nehmen. Wer den Weg nach Wien scheut und die Zeit sinnvoll überbrücken will, sollte schon mal im eigenen Wohnzimmer mit dem Bau des Schreins anfangen.

Steffen Irlinger

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