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Kultur: Das 5-Millionen-Spiel

Engagierte Kunst oder Sozialporno: Arbeitslosigkeit und Armut haben im Theater Konjunktur

Vielleicht war Yvonne Catterfeld die Erste, die den professionellen Umgang des Theaters mit Sozialverlierern mit unverstellter Härte auf den Punkt gebracht hat. „Ich würde gern’ mal einen Assi spielen", sagt der Teenie-Star bestens gelaunt. „Für eine Schauspielerin ist das kein Problem. Ich verstelle einfach die Stimme und bewege mich komisch.“ Unsentimentaler kann man das Verhältnis von Entertainment-Profi zu „Assi“ nicht formulieren. Wenn es der Karriere dient und der Markt es will, liefert die größer werdende Unterschicht dankbar genutztes Rollenfutter.

Genau genommen war es nicht Yvonne Catterfeld selbst, die das soziale Drama auf den banalen Boden des Show-Geschäfts holte, sondern eine Schauspielerin, die Yvonne Catterfeld gespielt hat. In der Stand-Up-Comedy „Planet Porno“ im Hebbel am Ufer in Berlin, einer Parodie auf den Theaterbetrieb, hatte das Catterfeld-Double neben „Frank Castorf“, „Peter Zadek“ und anderen Doppelgängern ihren grandiosen Kurzauftritt. Er wirkt wie eine ironische Fußnote zur Welle der Arbeitslosen- und Sozialverlierer-Dramen, die in letzter Zeit über die Bühnen schwappen.

Die skandalumtosten „Weber“ vom Staatsschauspiel Dresden sind thematisch kein Einzelfall. Sie wurden mit großem juristischen Krach überzogen und dürfen jetzt auch nicht am Berliner Ensemble gastieren. Statt dessen zeigen die Dresdner am BE ihre „Hommage an Gerhart Hauptmann“ ohne „Weber“-Text. Ob Stücke wie „Die Dummheit“ oder „Woyzeck“ an der Berliner Schaubühne, ob „Vier Millionen Türen“ oder „3 von 5 Millionen“ am Deutschen Theater oder, spröde und dokumentarisch, auch „Der Kick“ am Maxim Gorki Theater – Verlierer und Elendsgestalten haben Hochkonjunktur auf der Bühne.

Das kann zu paradoxen Effekten führen. Etwa wenn Menschen, die um jeden Obdachlosen in der U-Bahn einen weiten Bogen machen, zwanzig Euro und mehr Eintritt bezahlen, um Schauspielern dabei zuzusehen, wie sie an der Schaubühne in „Personenkreis 3.1“, einem Klassiker des Obdachlosen-Genres, virtuos den Gossen-Junkie geben. Den „Zoo-Effekt“ nennt Schaubühnen-Chef Thomas Ostermeier diesen Theaterblick auf den unteren Rand der bröckelnden Wohlstandsgesellschaft. Wenn Ostermeier in seiner „Woyzeck“-Inszenierung halbdebile Verlierer zeigt, die ihre tristen Tage in irgendeinem Plattenbau-Ghetto mit Suff und Schlägereien verbringen, ist das deprimierend – und auf gespenstische Weise beruhigend.

Auf die Depravierten aus der Hochhaussiedlung kann der Angestellte im Zuschauerraum im Gefühl der eigenen status-geschützten Überlegenheit herabblicken – noch. In Zeiten nervös werdender Mittelschichten, in denen die Angst vor dem drohenden sozialen Abstieg und ungewissen Zukunftsperspektiven auch in den besseren Etagen der Gesellschaft umgeht, sieht man freilich mit ambivalenten Gefühlen, dass es anderen deutlich schlechter geht. In das Mitleid mischt sich subtiles Distinktionsbewusstsein. So stabilisiert der soziale Ausschluss und die Bilder, die das Theater von ihm liefert, bei den Mittelschichten im Zuschauerraum das brüchig gewordene Selbstbewusstsein. „Sozialpornos“ nennt Christoph Schlingensief solche Distinktionsspiele. Dass auch ein integrer Regisseur wie Thomas Ostermeier diesen Mechanismen nicht entgeht, spricht nicht gegen das Theater. In ihm setzt sich lediglich der Umgang der Mittelschichten mit den Ausgegrenzten aus der Unterschicht fort.

Nach einer Untersuchung des Bielefelder Sozialwissenschaftlers Wilhelm Heitmeyer erleben 90 Prozent der Befragten Deutschland als sozial gespaltene Gesellschaft. Knapp jeder Siebte in Deutschland lebt unter der amtlich definierten Armutsgrenze. Darauf reagieren die Theater mit ihren Versuchen, das soziale Drama zu reanimieren. Niemand sollte sich wundern, dass sie dabei genau so hilflos agieren wie der Rest der Mehrheitsgesellschaft. Vielleicht macht gerade ihre Hilflosigkeit die Theater zu guten Messgeräten: An ihren Inszenierungen, möglicherweise besonders an den gescheiterten, verquälten, lässt sich ablesen, wie wenig Antworten die Gesellschaft auf die Brutalität der sozialen Spaltung hat.

Redlich und ungeschützt sind Armin Petras’ Versuche, von Menschen in ärmlichen Verhältnissen zu erzählen. Um der Falle des Sozialvoyeurismus zu entgehen, verzichtet er auf naturalistische Schock-Momente. Statt dessen erzählt er in seinem Stück „3 von 5 Millionen“ ein Märchen. Die naive Geschichte von drei Arbeitslosen, die in den Zwanzigerjahren nach Südamerika auswandern, scheitern, zurückkehren und am Ende im Elend sterben, wird zur Romanze. Die Inszenierung am Deutschen Theater entwirklicht und poetisiert die Armut. Petras will den Verlierern eine trotzige Würde geben. Dass er das nur mit einer Überdosis Kitsch kann, verweist darauf, wie wenig Würde und Selbstachtung ihnen die Mehrheitsgesellschaft in Wirklichkeit – und ohne Kitsch-Filter – zugesteht. Der soziale Ausschluss setzt sich als Wahrnehmungsblockade fort. Die wachsende Unterschicht wird allenfalls als fernes Gerücht zur Kenntnis genommen. „Fürsorgliche Vernachlässigung“ nennt das der Historiker Paul Nolte.

Was passiert, wenn der Sozialstaat nicht mehr greift, wenn das Theater allzu engagiert seine Grenzen überschreitet, führt eben jene Dresdner Inszenierung der Hauptmannschen „Weber“ von Volker Lösch vor. Sie stellt einen Versuch dar, für sozial Ausgegrenzte eine partielle Öffentlichkeit, also gesellschaftliche Repräsentation herzustellen. Mit den Schauspielern stand bei der Premiere Ende letzten Jahres ein Chor von Dresdner Arbeitslosen auf der Bühne. Sie formulierten neben Bewerbungsschreiben auch Gewaltfantasien und ihren Hass auf eine Gesellschaft, die für sie keine Verwendung hat. Dass der Bühnenverlag Felix Bloch Erben diese aktuell angereicherte Hauptmann-Aufführung juristisch attackierte und das Experiment mit authentischen O-Tönen stoppte, zeigt auch die engen Grenzen der Toleranz: Werden die Ausgegrenzten zu laut, hört der Spaß auf. Im Zweifel wird das Urheberrecht hervorgezogen.

Der Preis, den die Dresdner für diese lehrreiche Zuspitzung zahlen, ist gefährlicher Populismus. Der artikulierte Hass ist blind: Schuld am Elend sind die Ausländer, die in Polen oder China billiger arbeiten. Das Gefühl der Hilflosigkeit wird aggressiv. Schöne Aussichten.

„Die Dresdner Weber – Hommage an Gerhart Hauptmann“, Gastspiel im Berliner Ensemble, 21. und 22. Mai, 19.30 Uhr

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