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Kultur: Das Auge des Teufels

Vorsicht, Kamera: Michael Hanekes Ehe-Thriller „Caché“ rührt an ein französisches Trauma

Die Nachricht war ein Schock, dabei war sie schon 37 Jahre alt. Vor acht Jahren brach die Tageszeitung „Le Monde“ ein Tabu der französischen Zeitgeschichte – und erinnerte an einen Massen-Mordfall, begangen in Paris am 17. Oktober 1961: Damals hatte die Polizei 200 Algerier zu Tode geprügelt und die Leichen kurzerhand in die Seine geworfen. Die Zeitungen schwiegen die Sache tot, in den Schulgeschichtsbüchern des Landes fand das Ereignis fortan keinerlei Erwähnung. Eine liberale Demokratie betrieb jahrzehntelang Beihilfe zur Verschleierung eines von ihren eigenen Institutionen begangenen Massakers und hob sich damit in gewisser Weise selbst auf.

Verdrängung als Verbrechen: Es ist äußerst hilfreich, sich in Sachen „Caché“ dieses historische Ereignis zu vergegenwärtigen, denn das Kollektivtrauma überwölbt darin eine konkrete individuelle Schuld. Aber ist Michael Hanekes bislang vertracktestes Denkrätselstück deshalb ein politischer Film?

Versuchen wir es mit einer (Lieblings-)Szene. Es ist früher Abend, der eigentlich erfolgreiche Fernseh-Literaturpapst Georges taumelt von einem seiner zuletzt furchtbaren autobiografischen Bewältigungsstadtgänge nach Hause, vorbei am Wohnzimmer, wo seine Frau Anne Gäste bewirtet. Oben im Schlafzimmer macht er kein Licht, ist nur ein entfärbter Körper im Trenchcoat, ein Schattenriss, und per Telefon ruft er seine Frau herbei, der er fremd geworden ist in diesen Tagen wie noch nie. Er beichtet ihr was; sie hört zu, ein blasses, vom Alleingelassensein wie aufgelöstes Gesicht. Und streicht ihm – endlich eine Berührung zwischen den beiden – fast unmerklich sachte über die Schulter.

Vertrauensverlust durch hartnäckiges Verschweigen: Geht es im neuen Film des lange schon in Frankreich lebenden Regisseurs vor allem um das urfranzösischste aller französischen Kino-Themen, um Beziehungsprobleme? Wenn das so einfach wäre.

Reden wir von den Videos. Der Film beginnt mit dem starren Blick auf ein zwischen Appartementblocks eingezwängtes Einfamilienhaus, eine starre Kamera nimmt die Wohnstraße davor ins Visier, die Titel füllen langsam die Leinwand, als sickerte da eine Art Buchstabenmilch aus, oder ist es schon Blut. Dann reden Leute, und das hochauflösende Bild ruckelt: Schnellrücklauf. Erste allgemeine Verunsicherung: Wir sehen hier nicht einen Film, sondern Leute, die ein Video sehen. Oder das starre Schlussbild: Es enthüllt, während der Abspann zu laufen beginnt, ein wichtiges dramaturgisches Detail, zu deuten womöglich als chiffriertes Happy End. Doch was, wenn auch dieses Bild bloß eine – nachgetragene – Videoaufzeichnung ist? Oder Georges’ Träume: aufgenommen vom unwandelbaren Auge der Erinnerung, hineingeschossen durch die Verdrängungsmembran in so etwas wie Seele. Und irgendwer, bloß wer, hält auch jetzt wieder die – versteckte – Kamera.

Wahrheit als Lüge: Macht sich der Bildertüftler Michael Haneke in seinem Film, der im Titel mit dem Unsichtbaren, Versteckten, Geheimen spielt, also nur ein diskursfreudiges Vergnügen mit unserem Auge, dem Sinnestäuschungsorgan Nummer eins? Auch das kann man so bündig nicht sagen.

„Caché“ ist ein Abenteuer. Sein Genre: Familien-Psychothriller ohne Auflösung mit Polit-Hintergrund, zum Ausgleich gibt es ästhetische Fußangeln satt. Und schon streikt die Interpretations-Fernbedienung, deren Knöpfe wir Kritiker sonst so blind zu bedienen wissen. Das Ergebnis: ein Deutungsgetriebeschaden – so schwerwiegend, wie wir ihn seit David Lynchs „Mulholland Drive“ nicht mehr diagnostiziert haben.

Vielleicht schlimmer noch: Im Gewand einer zunächst listig-logisch-linear angelegten Geschichte verbirgt Haneke auf einer ästhetischen und dramaturgischen Doppelebene immer beunruhigendere Rätsel, um deren Lösung die Zuschauer fieberhaft ringen, simultan mit den gepeinigten Helden. Das großstadtbürgerliche Ehepaar Georges und Anne Laurent, fantastisch alltagsnah verkörpert von Daniel Auteuil und Juliette Binoche, versucht sich die Herkunft anonym zugestellter Videos zu erklären, die ihr Haus zeigen und Georges’ Kinderheimat, einen Gutshof auf dem Land. Dann kommen Zeichnungen hinzu: linkisch wie Kleinkindergekritzel hingeritzt, ein Köpfchen mit knallroter Zunge, ein geköpftes Tier, Blut jedenfalls, viel Blut. Bald hat Georges eine Spur und guten Grund, seine Ermittlungen zunächst alleine anzustellen; gegen die Empfehlung seiner Frau ohne Polizei – und auch ohne sie selbst einzuweihen. Tapfer und doch seltsam matt revoltiert sie gegen seine Geheimniskrämerei, und schon liegt die Fremdheit, an der das Paar bislang routiniert vorbeilebte, offen zutage.

Die Spuren dagegen, die der Zuschauer verfolgt, führen auf verschiedenen Ebenen ins Leere. Mit dem Versand der Videos und Zeichnungen sind, damit fängt es an, keinerlei handelsübliche Erpresser-Drohgebärden verbunden. Bald auch können wir die Standorte der Kamera an verschiedenen Schauplätzen fast quadratdezimetergenau in Augenschein nehmen – und uns davon überzeugen, dass derlei Aufnahmen überhaupt nicht unbemerkt hätten gemacht werden können. Und schließlich treibt uns „Caché“in einen schauerlichen Gänsehaut-Augenblick – aus exakt jener Perspektive, die womöglich gerade wieder eine Kamera einnimmt, die allerdings an dieser Stelle gar nicht postiert sein kann. Haneke probiert nicht das „Auge Gottes“, wie die Draufsicht aus der Totale so schön poetisch genannt wird; in „Caché“ ist der Seitenblick des Teufels am Werk.

Schließlich wird eine Art Verbrechen aufgeklärt, und damit ist noch nichts über einen Film verraten, dessen Besichtigung jederzeit ein schockschwarzes Vergnügen bleibt. Dass dieses Verbrechen – Georges hat als Kind einen algerischen Ziehsohn der Familie denunziatorisch vertrieben – juristisch ohne Bedeutung ist, gehört zu den weiteren Pointen des seine Widerhäkchenfäden kunstvoll verwebenden Werks. Vielmehr dürfen wir aus der privaten Schuld, gegen die Georges sich wütend und auch dumpf aufbäumt, durchaus auf jene „emotionale Vergletscherung der Gesellschaft“ schließen, deren beklemmende Visualisierung sich Michael Haneke zum Lebensthema gemacht hat.

Man kann sie aus einem enthüllenden Zeitungsartikel wie jenem in „Le Monde“ herauslesen; man darf sie grundsätzlich ebenso auf den Umgang mit dem eigenen Unbewussten anwenden. Der Rettungsvorschlag des filmisch immer besser, weil subtiler argumentierenden Moralisten Michael Haneke ist – wie könnte es anders sein – paradox: Der Mensch muss die Augen offen halten, auch wenn ihm dabei mitunter fast das Sehen vergeht.

Ab Donnerstag in den Berliner Kinos Broadway (OmU), FT Friedrichshain, fsk (OmU), Hackesche Höfe, Kulturbrauerei und Neues Kant

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