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Kultur: Das Bett auf der Straße

Von Buenos Aires nach Kreuzberg: der Wrangelkiez als Kunstspektakel

Wer sich zu nachtschlafender Zeit in seinem Bett hin- und herwirft, ist ja oft mit erstaunlichen Hirnaktivitäten gesegnet. „Mein ganzes Leben bröckelt“ erkennt zum Beispiel eine schlafgestörte junge Frau in einer Kreuzberger Erdgeschosswohnung gegen 23.20 Uhr messerscharf, während sie an die renovierungsbedürftige Decke ihres Zimmers starrt. Ein selbstkritischer Befund, der die Négligé-Trägerin dann interessanterweise direkt zum Deutschen Herbst führt: „Ich wünschte, die RAF hätte Erfolg gehabt“, sinniert sie – in einem Atemzug mit dem tapferen Entschluss: „Wenn der Typ mich nicht anruft, rufe ich eben ihn an.“

Dieser bemerkenswerte somnambule Entwicklungsprozess vollzieht sich in aller Öffentlichkeit. Die Nicht-Schläferin offenbart sich mitten auf der Wrangelstraße in Berlin-Kreuzberg in einem Schaufenster , vor dem schätzungsweise fünfzig neugierige Menschen einander fröhlich auf die Füße treten.

Eigentlich gehört das Schaufenster zu einem Ökoladen. Die Mieterinnen haben sich im Dienste der Kunst vorübergehend ausquartieren lassen, schieben jetzt einen kleinen Verkaufswagen mit „Knusperstangen“ für zwei Euro vor ihrem eigenen Shop auf und ab und lassen sich auch von der Tatsache, dass der Handel mit dem Gebäck eher schleppend läuft, nicht im mindesten die Laune verderben. Solche Verquickung von Kunst und Leben hat der argentinische Regisseur Mariano Pensotti schließlich im Sinn, wenn er einen ganzen Straßenzug absperren und seine Schauspieler aus Schaufenstern, CD-Läden und Cafés heraus weithin identifikationstaugliche Lebensgeschichten unters Kiezvolk streuen lässt.

Pensottis Projekt „La Marea“ – ursprünglich für eine Gegend à la Berlin-Mitte in Buenos Aires konzipiert und letztes Jahr auch beim „KunstenFestival des Arts“ in Brüssel gefeiert – gastiert auf Einladung des Hebbel am Ufer im viel beschworenen Problemkiez auf dem Wrangelstraßenabschnitt zwischen Falckenstein- und Oppelner Straße. Umso erstaunlicher, wie reibungslos das Projekt auch hier funktioniert, obwohl der Regisseur die Szenen lediglich ein wenig für Berlin konkretisiert, nicht aber umgeschrieben hat. Pensotti zielt eher aufs Universelle als aufs Kultur- oder Milieuspezifische.

So unterschiedlich die neun Szenen, die der eifrige Theatergänger und Zufallspassant hier insgesamt sehen kann, auch sind: Auf alle trifft die Diagnose zu, die Botho Strauß einst seiner schrägen Lotte in „Groß und klein“ stellte: „Es ist alles sehr einfach: Nichts klappt“. Die schlaflose Frau im Schaufenster sieht schon jetzt so aus, als könnte sie ihre nächtliche Zwangsforschheit keinesfalls in den Tag hinüberretten. Ihr Midlife-Krisen-Kollege, der auf dem Balkon gegenüber immer mal wieder bedrohlich zur Brüstung wankt, während hinter ihm im Wohnzimmer eine laute Teenie-Party tobt, hatte sich vor Jahren sicher auch nicht träumen lassen, dass ihm zu seiner Tochter und ihren Freunden einst nicht viel mehr als der Satz einfällt: „Einige haben unglaublich dumme Gesichter“. Die Kellnerin ein paar Türen weiter liest einen Brief ihres Freundes – eines Soldaten aus dem Irak, der Liebesgeständnisse plötzlich nur noch in Militärmetaphern zustande bringt. Und der betagte Gast, den die Kellnerin anschließend bedient, hat in Las Vegas zwar erstaunlich viel Geld erzockt – nur leider am ersten Urlaubstag seine Frau verloren. Selbst das an die zehn Minuten obsessiv knutschende Paar gegenüber der Kneipe wird sich aus Gründen, die es selbst nicht so richtig versteht, bald wieder trennen.

Es sind zehnminütige, unsentimentale Szenen – durchaus poetisch, ohne jede verkrampfte Kunstanstrengung, die Pensotti hier entwirft. Zwei Stunden lang beginnt jedes Kurzdrama auf der Wrangelstraße immer wieder von vorn; die Zuschauer können sich ihren Parcours frei zusammenstellen. Der Clou an Pensottis Minidramen besteht darin, dass die Texte nicht gesprochen, sondern – je nach Szenario – auf die Straße, Balkonbrüstung, Kneipen- oder Wohnungswand projiziert werden und die Schauspieler keine naive Bebilderungspantomime dazu liefern, sondern oft einfach nur irgendwo stehen, sitzen oder auf- und abgehen.

Pensotti bleibt bei der Perspektive, die man als Passant oder Straßencafé-Beobachter tatsächlich auf seine Umgebung hat – und liefert einfach einen möglichen Subtext zu den Bildern. Diese Methode lässt nicht nur ein melancholisches, aber dabei vollständig pathosfreies Panorama einsamer Menschen entstehen, sondern bewahrt das charmante Projekt außerdem traumwandlerisch vor jeglichem Anflug von Kitsch.

Mit dem Versuch jedoch, Kunst und Alltag, Schauspieler und Kiezbewohner bis zur Unkenntlichkeit miteinander zu verquicken, sieht es schwieriger aus. Hervorragend immerhin gelingt er bei dem verunglückten Motorradfahrer, der – geschlagene zwei Stunden auf der Straße liegend – täuschend echtes Kunstblut spuckt: Drei etwa zehnjährige türkische Jungs hüpfen kichernd um ihn herum, inspizieren sein Motorrad, fragen verstohlen, ob das Blut echt sei und machen sich anschließend mit Foto-Handys am Schauspieler zu schaffen, vor dessen Nervenstärke man nur ehrfürchtig auf die Knie fallen kann. Sobald die minderjährigen Zuschauer im Bett sind, bekommt der Abend allerdings doch eher den bewährten Kunstbetrachtungscharakter.

Eine Stunde nach Performanceschluss, eine halbe Stunde nach Mitternacht, hat die Realität den Wrangelkiez wieder vollständig im Griff: Die Polizeipräsenz ist hoch im Performancegelände. Allen Transzendierungsversuchen der Kunst in die Realität – und umgekehrt – zum Trotz kann man es manchmal auch genießen, dass Inszenierung und Wirklichkeit in einigermaßen verschiedenen Ligen spielen.

Noch einmal heute, ab 21.30 Uhr, Wrangelstraße zwischen Falckenstein- und Oppelner Straße, Eintritt frei.

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