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Kultur: Das bin alles ich. Ein anderes Ich gibt es nicht

In seinem großen Roman „Briefsteller“ erzählt Michail Schischkin von einer Liebe in zwei parallelen Universen.

Jedes Detail prunkt hier mit aufreizender Sinnlichkeit: der Geruch nasser Blätter oder das Geräusch des Regens auf einem Verandadach. Von der ersten Seite an zieht Michail Schischkin den Leser in einen epischen Strom der Träume und der Leidenschaften, des Begehrens und der Einsamkeit. „Pis’movnik“ heißt der in Russland mit dem Bolshaja kniga (Das große Buch) preisgekrönte Roman „Briefsteller“ im Original, was auf Deutsch auch Schriftsteller heißt.

Die Liebesgeschichte, die er erzählt, geht deshalb doppelt bewusst mit den Wörtern und Sprachbildern um, über die der Protagonist Wolodja, Saschas ferner Geliebter, stundenlang nachgrübeln kann. Was nicht ganz einfach ist, denn er steckt mitten in irgendeinem Krieg, aber an Kriegen herrscht bekanntlich in vielen Weltgegenden kein Mangel: „Kaum blättert man die Zeitung auf, schon werden Babys aufs Bajonett gespießt und alte Frauen vergewaltigt.“

Lakonisch und spöttisch ist der Ton dieses Buchs, das fest in der russischen Erzähltradition verankert ist – von Gogol über Turgenjev bis Tschechow. Dadurch gewinnt es eine spielerische Leichtigkeit, die angesichts seines radikal körperlichen Erzählens und der blutigen Ereignisse immer wieder verblüfft. Denn Wolodja landet, nach seinem unschuldigen Liebeserlebnis mit Sascha, mitten im chinesischen „Boxeraufstand“, bei dem wahllos Zivilisten ermordet, gefoltert und verstümmelt werden. Er beschreibt die schwarzen Zungenspitzen der auf offener Straße Geköpften genauso anteilnehmend und detailversessen wie das lustvolle Sich-Aufbäumen von Sascha in der ersten gemeinsamen Nacht in der Datscha.

Sascha und Wolodja. Zu Beginn scheint alles ganz einfach: eine Sommerliebe, die durch einem Einberufungsbefehl tragisch beendet wird. Doch je weiter man liest, desto rätselhafter klingt das alles. Denn die Welten der Liebenden scheinen sich mit Lichtgeschwindigkeit voneinander zu entfernen.

Sascha lebt in einer heutigen russischen Stadt, studiert Medizin, wird Ärztin, arbeitet in einer Abtreibungsklinik – während Wolodja 1901 auf Peking zumarschiert, um die in ihren Handelsniederlassungen eingeschlossenen Kaufleute und Missionare zu befreien. Dann trifft bei seiner Mutter auch noch eine Todesmeldung ein. Doch seine Briefe werden immer konkreter: jedes Pud Zucker, jeden kranken Matrosen (aus Marco Polos Reiseberichten entlehnt) zählt er auf; beschreibt die Pferde, die sie an der Mündung des Peiho aus dem Segelschiff laden und die Leichen, die an brennenden Dörfern vorübertreiben.

Sein Reisebegleiter, ein Student der Orientalistik, muss, wie Wolodja anmerkt, ein moderner Nachfahre von Jules Vernes Paganel aus den „Kindern des Kapitän Grant“ sein. Ein ebenso ungelenker Alleswisser, der den Feldzug in eine wissenschaftliche Expedition verwandelt. Dass dieser Paganel auch in den gefährlichsten Momenten die Welt staunend durch seine dicken Brillengläser betrachtet, hat etwas Kindlich-Anrührendes. Zugleich verfremdet es die Ereignisse auf gnädige Weise.

Auch Sascha erspart dem Geliebten den Todesgeruch und das Leid nicht, mit dem sie täglich zu tun hat, im Gegenteil: indem sie alles ausspricht, fühlt sie sich ihm nahe. Der Leser erfährt nicht, wo all die Briefe ankommen, und vielleicht deshalb wirken sie oft wie Tagebuchaufzeichnungen, ein unwillkürliches Sich-Aussprechen bis in die schmerzhaftesten Tiefen der Gefühle.

Es sind zwei Einsame, die hier einander die Welt erzählen und wie Scheherazade hoffen, damit den Tod hinauszuschieben. Dabei laufen ihre Wahrnehmungen unverbunden nebeneinander her, aber schneiden sich Parallelen nicht im Unendlichen? Denn wie die Welt im Innersten von Reimen zusammengehalten wird – auch darin sind sich die zwei Sprachgläubigen einig –, so hat sie als äußerste Hülle das Reich der Erfindung und Imagination.

Hier ist alles erlaubt, Wolodja kann über den idealen Tod nachgrübeln und jede Verwundung, die er sieht, in Gedanken „wie ein fremdes Kleidungsstück anprobieren“. Und Sascha, die Abtreibungsärztin, darf sich aus Schnee eine Tochter kneten und ihr zu Hause die Füße warm reiben, als Ausgleich für die unzähligen getöteten Embryos, deren abgeschnittene Beinchen ihr bis in ihre Träume nachlaufen.

Wie in seinem letzten Roman „Venushaar“, für den er den Internationalen Literaturpreis des Hauses der Kulturen der Welt erhielt, verknüpft der 1961 geborene Schischkin, der seit 1995 abwechselnd in der Schweiz, in seiner Geburtsstadt Moskau und in Berlin lebt, wo er gerade Gast des Berliner Künstlerprogramms des DAAD ist, meisterlich einen archetypischen Moment (wie den „Boxeraufstand“) mit einem feinen psychologischen Blick. Sascha und Wolodja, die so heftig um Selbsterkenntnis ringen, könnten die glücklicheren Enkel der vergeblich Liebenden aus Tschechows „Möwe“ sein. In einem seiner schönsten Briefe schreibt Wolodja: „Dieser Haltepunkt, die Laterne, die Hammerschläge, das Zirpen der Grillen im Fenster der Telegrafenstation, der Geruch nach Rauch und heiß gelaufener Lokomotive und jetzt dieser röchelnde, müde Lokomotivenruf, das bin alles ich. Ein anderes Ich gibt es nicht. (…) Alles geschieht einmalig und sofort. Und wenn unser Zug demnächst wieder anrückt, entschwindet dieser Haltepunkt und ich mit ihm.“ Ein verführerischer und beglückender, spannender und verblüffender Roman. Nicole Henneberg

Michail Schischkin: Briefsteller. Roman. Aus dem Russischen von Andreas Tretner. Deutsche Verlagsanstalt, München 2012. 378 S., 22,99 €. – Der Autor stellt sein Buch am Donnerstag, 25.10., um 20 Uhr im Literarischen Colloquium Berlin vor. Es lesen Alexander Khuon und Katharina Marie Schubert vom Deutschen Theater.

Nicole Henneberg

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