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Kultur: Das Dorf, die Welt

Provinzroman, das ist kein Schimpfwort mehr. Norbert Scheuer schreibt über die Eifel und stellt „Peehs Liebe“ beim Berliner Literaturfestival vor.

Bei gutem Wetter kann man bis Köln sehen, obwohl die Stadt 80 Kilometer entfernt liegt. Den Blick kennen die Leser von Norbert Scheuers Romanen und Gedichten: Hier in Keldenich, einem Vorort von Kall in der Eifel, ist der Schriftsteller zu Hause. Und auch die Bewohner der Gegend sind seinen Lesern vertraut, bevölkern sie doch immer wieder neu seine Romane – als schriebe der Autor an einem einzigen großen Epos.

Literatur aus der Provinz mit dem Blick in die Welt? Für Scheuer gehört das, was gemeinhin unter Land und Provinz verstanden wird, in die Vergangenheit: „Es gibt überall Teilverstädterung, man kann keine klare Trennlinie zwischen Stadt und Land mehr ziehen.“ Darum geht es auch in seinem neuesten Roman „Peehs Liebe“, den man auf vielfältige Weise lesen kann. Als Lebenserzählung des zurückgebliebenen Rosarius, der erst mit 23 Jahren sprechen lernt, als Liebesgeschichte von Rosarius und Peeh, die Kall verlässt, um es als Musikerin zu versuchen, als Geschichte des Abenteurers Vincentini, der nach der Rückkehr aus dem Krieg mit einem Akupunkturgerät vorzugsweise Frauen zu kurieren und zu verführen sucht. Und als Geschichte von Rosarius’ Mutter, die einem Archäologen nachtrauert, der auf der Suche nach römischen Heerstraßen orientalische Wüsten durchstreift.

Andere Personen wie den Lastwagenfahrer Höger, den Freund Leo oder den Schatzsucher Strohwang kennt man aus früheren Büchern, aus „Der Steinesammler“ (1999), „Flussabwärts“ (2002), „Kall, Eifel“ (2005) und „Überm Rauschen“, das es 2009 auf die Shortlist zum Deutschen Buchpreis schaffte.

Norbert Scheuer, 1951 in Prüm geboren, studierte Elektrotechnik, dann Philosophie in Düsseldorf, seine Abschlussarbeit schrieb er über Immanuel Kant. Dann kehrte er in die Eifel zurück, dorthin, wo seine Mutter eine Gaststätte führte, die letzte in einer langen Reihe von Familienbetrieben. Das Wanderleben, das Scheuer als Bub miterlebte, und die Geschichten, die er damals am Tresen hörte, erweisen sich noch heute als unerschöpfliches Reservoir für sein Schreiben. Drei Romane, zwei Erzähl- und zwei Gedichtbände hat er veröffentlicht; Schauplatz ist immer das Städtchen Kall, von dem es in „Peehs Liebe“ heißt: „Es war, als redeten sie von einem Ort, den sich ein Dichter ausgedacht hatte und in dem alles so wie in Wirklichkeit war, aber doch irgendwie anders.“

Auch Straßen und ihre Namen spielen erneut eine wichtige Rolle: schon die Römer bauten Heerstraßen durch die Eifel, seit der Antike wurde in der Gegend von Kall Blei gefördert, im Kalksteinbruch brach man Steine für das Zementwerk, einst größter Arbeitgeber vor Ort. Dort hat Scheuer als Lehrling gearbeitet. Die Steinlaster zwischen Steinbruch und Zementmühle vermessen in seinen Geschichten den Verlauf der Zeit und die Entfernung zu den Welten außerhalb von Kall. Lastwagenfahrer Höger zum Beispiel fährt immer wieder Transporte durch Europa.

Norbert Scheuer kehrt oft in den inzwischen verlassenen Steinbruch zurück, sammelt Ideen für seinen nächsten Roman auf langen Spaziergängen durch die Landschaft seiner Jugend oder sitzt im Supermarkt-Café am Kaller Bahnhof und skizziert die Erzähllinien in Notizbüchern. Die wohl größte Ermutigung, sich nach ersten Gedichten auch an einen Eifel-Roman zu wagen, war für ihn der biografisch geprägte Fernsehzyklus „Heimat“ von Edgar Reitz, dessen erste beide Serien 1984 und 1992 ausgestrahlt wurden und der auch international erfolgreich war. Heute arbeitet Reitz am vierten Zyklus, „Die andere Heimat“. Der Filmemacher erzählte Scheuer von den großen Widerständen in den Sendern, schon der Titel „Heimat“ war kaum durchzusetzen.

Ein Begriff, der bis heute kontaminiert ist. Dass er weder Kitsch noch Blut und Boden bedeuten muss, stellte der im Hunsrück geborene Reitz mit seinem fiktiven Schabbach unter Beweis. Wahrhaftigkeit und Welthaltigkeit nimmt auch Scheuer für seine Provinzromane in Anspruch. Damit steht er in einer Reihe mit dem gleichaltrigen Arnold Stadler und mit jungen Autoren wie Patrick Findeis mit seinem Oberschwaben-Buch „Kein schöner Land“ , Stephan Thome, dessen „Grenzgang“ in Nordhessen spielt, oder Andreas Maier, der seinen auf elf Bände angelegten Zyklus in Südhessen ansiedelt.

Die Sprache in „Peehs Liebe“ – nominiert für den Wilhelm-Raabe-Preis – lebt wie Scheuers frühere Romane von lakonisch-knapper Poesie und genauer Beobachtung. Ihre Kraft bezieht sie aus den Bildern und Farben der Landschaft und Jahreszeiten – und aus einer auf den ersten Blick gewagten dramaturgischen Linie zu Hölderlins „Hyperion“, den die Figuren zitieren. Im Verlauf des Romans findet die Dichtung aus der Wendezeit vom 18. zum 19. Jahrhundert jedoch schnell einen Platz im kargen Eifeler Ambiente: Hyperion erzählt Bellarmin mit lyrischem Überschwang von seiner Liebe zu Diotima. In „Peehs Liebe“ lauscht Krankenschwester Anni dem verwirrten Rosarius, schlüpft in die Rolle seiner geliebten Peeh und nähert sich Hölderlins poetischer Sprache.

Die Wahl Hölderlins liegt für Norbert Scheuer nahe: Mit dem Philosophen Immanuel Kant hatte er so seine Probleme und entdeckte eine eigene, nicht objektive Welt in der Sprache. Gedichte sind für ihn „sinnliche Philosophie“.Und Romane haben für ihn „etwas Stabilisierendes, sie legitimieren die künstlerische Existenz“. Die Welt der Erzählungen sieht er heute als große Kommunikationsmöglichkeit zwischen den Menschen. Alles, was wir sind, sagt er, ist letztlich ein „komplexes Gewebe unserer Geschichten von der Welt". Regina Wyrwoll

Norbert Scheuer: Peehs Liebe. Roman. C. H. Beck Verlag, München 2012, 223 S., 17,95 €. – Der Autor diskutiert am heutigen Sonnabend beim Internationalen Literaturfestival im Haus der Berliner Festspiele bei der „European Poetry Night“ (20 Uhr) und stellt am Sonntag den Roman vor (13 Uhr).

Regina Wyrwoll

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